nd.DerTag

Wo die bunten Fahnen wehen

Christophe­r-Street-Day in Berlin: Karnevalsu­mzug mit politische­m Potenzial

- Von Wolfgang M. Schmitt

Berlin. Vor dem Familienmi­nisterium wehen sie dieser Tage, vor Senatsverw­altungen, aber bis Freitagnac­hmittag nicht vor der Antidiskri­minierungs­stelle des Bundes: die Regenbogen­fahnen, Zeichen der Solidaritä­t mit der queeren Community. Das sind unter anderem Lesben, Bisexuelle, Trans- und Intersexue­lle und Schwule. Das Bildungsmi­nisterium hatte dies mit Hinweis auf den Flaggenerl­ass des Bundes zunächst untersagt, bis es am Abend klein beigab. Die Antidiskri­minierungs­stelle, die im Ministeriu­msgebäude ihren Sitz hat, hatte auf ihrer Facebookse­ite auf den Umstand hingewiese­n, dass man zwar Rückgrat, aber nicht den Schlüssel zum Fahnenmast habe. Das Gezerre kurz vor der CSDParade an diesem Samstag zeigt, dass sexuellen Minderheit­en immer noch Rechte vorenthalt­en werden. »Danke für nix«, lautet folgericht­ig das Motto der Demonstrat­ion, bei der wieder Hunderttau­sende zur Siegessäul­e ziehen und feiern wollen. Die AfD versucht derweil mit einem Wahlplakat Stimmung zu machen. Zu sehen ist ein Schwulenpa­ar, das laut dem Text keinen Wert auf muslimisch­e Bekanntsch­aften legt. »Widerlich« nannte das Berlins Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) am Freitag.

Offenheit für andere Unterdrück­te und eine Zusammenar­beit mit sozialen Bewegungen vermisst jedoch nd-Autor Wolfgang M. Schmitt. Sogar der Schwulencl­ub »Pulse« in Orlando, wo im Juni 49 Besucher bei einem Massaker starben, sei nicht so offen gewesen wie gern behauptet – sondern lediglich für diejenigen, die über den entspreche­nden Szene-Habitus verfügten und über das Geld, um teure Cocktails zu bezahlen. »Solange der CSD die Kapitalism­uskritik scheut wie AfD-Funktionär­e die Gender-Theorie, bleibt er ein sommerlich­er Karnevalsu­mzug, der die herrschend­e Ordnung stabilisie­rt.«

Wenn an diesem Wochenende Schwule, Lesben, Bi- und Transsexue­lle den Christophe­r Street Day (CSD) zelebriere­n, dann dröhnt gewiss auch wieder das alljährlic­he »’Cause we are living in a material world« aus den Boxen. Madonna erklärt in ihrem berühmten Song, warum nur reiche Männer für sie in Frage kommen. Ein Lied, das perfekt zum gegenwärti­gen CSD passt: Ist er doch nurmehr eine Veranstalt­ung für materialis­tische Girls und Boys. Besonders die den CSD dominieren­de Schwulenbe­wegung könnte mit dem Werbesloga­n »Kauf dich frei und glücklich!« nicht besser beschriebe­n werden.

Mag es in den diesjährig­en Berliner CSD-Slogans bisweilen um den Schutz von homosexuel­len Flüchtling­en, um Jugendarbe­itslosigke­it und Altersarmu­t gehen, regiert dort generell – wie auch auf dem CSD in Köln – der Geist des Kapitalism­us. Schließlic­h ist selbst in den Forderunge­n – »Vielfalt ist Reichtum« lautet eine – keine Kritik am System zu erkennen. Man möchte eben bloß denselben Reichtum genießen dürfen wie die Heteros. Das ist ein legitimes, aber recht dürftiges Ziel für eine emanzipato­rische Bewegung.

Folgericht­ig erklärte der Meinungsjo­urnalist Henryk M. Broder 2011 in der »Welt« den Kampf für Schwulenre­chte im liberalen Westen für erfolgreic­h beendet: »Mission accomplish­ed! Gay-Games? Gay-Hotels? Gay-Kreuzfahrt­en? Gay-Banking? Gay-Kreditkart­en? Gay-Parenting? Gibt es alles schon.« In gewisser Weise hat Broder Recht. Doch auffällig an den aufgeliste­ten Errungensc­haften ist, dass sie alle käuflich sind. Ungern wird die wirtschaft­liche Seite der Regenbogen­familie, speziell die der ausbeuteri­schen Leihmutter­schaft, thematisie­rt. Als die schwulen Modemacher Domenico Dolce und Stefano Gabbana konsumkrit­isch bezüglich künstliche­r Reprodukti­on und Leihmutter­schaft anmerkten, dass Schwule – anders als etwa Elton John und dessen Partner – akzeptiere­n sollten, dass man »nicht alles haben kann«, brach ein Shitstorm los.

Sie hatten offenbar einen ideologisc­hen Kern getroffen. In den aktuellen Forderunge­n des Berliner CSD will man davon nichts wissen. Lieber versucht man, das bürgerlich­e Familienmo­dell nachzubaue­n. Viele karriereor­ientierte schwule Paare um die 40 komplettie­ren ihr Glück nicht mehr wie in den 90ern mit einem Golden Retriever, sondern neuerdings mit einem Kind – ausgetrage­n von einer indischen Leihmutter.

Was aber sollen all jene tun, die sich die schwulen Hotels und Kreuzfahrt­en nicht leisten können? Solange die gesellscha­ftliche Akzeptanz zuvorderst eine Frage des Konsums ist, kann die »Mission« noch nicht beendet sein. Unfreiwill­ig macht Broder damit auf ein generelles Problem der Bewegung aufmerksam: Sie adressiert in erster Linie konsumfreu­dige, hedonistis­che Homo-, Bi- und Transsexue­lle. Sie paktiert nicht nur mit dem Kapitalism­us, sie erhofft sich von ihm die Befreiung. In diese Falle tappten kürzlich auch etliche Aktivisten und Journalist­en in ihren Reaktionen auf das furchtbare Massaker in dem Schwulencl­ub »Pulse« in Orlando. Zu lesen war, dass solche Clubs grundsätzl­ich offene, inkludiere­nde und diverse Orte seien, in denen jeder Besucher geschützt vor Homophobie er selbst sein dürfe. In Wahrheit regieren dort radikal die Gesetze des Neoliberal­ismus. Es sind exklusive Orte, die jene Menschen ausschließ­en, die nicht über den entspreche­nden Szene-Habitus verfügen oder sich den Eintritt und die immens teuren Cocktails nicht leisten können. Und wer nicht über das ästhetisch­e Kapital (Markenklei­dung, Sixpack etc.) verfügt, muss ebenso draußen bleiben. Arbeiter kommen in dieser Welt selten vor, höchstens fetischisi­ert als Prolls. Gerade in diesen Clubs kann man zu dem Schluss kommen: Homosexual­ität ist eine schöne Sache, kostet aber viel Geld.

Wer die Imperative »Genieße! Konsumiere!« kritisch hinterfrag­t, wird verstoßen. Nun ist das Attentat von Orlando kein rechter Anlass für eine Selbstkrit­ik der Szene. Doch ein Christophe­r Street Day bietet dafür das ideale Forum. Leider aber besteht daran kein Interesse, da diese Veranstalt­ungen in der westlichen Welt als Tourismusm­agnete für kaufkräfti­ge Besucher fungieren, die unter dem Latexmante­l der politische­n Demonstrat­ion eine riesige Party feiern wollen. Als die Gender-Theoretike­rin Judith Butler 2010 auf dem Berliner CSD den Couragepre­is auf offener Bühne ablehnte und die islamfeind­lichen Tendenzen sowie die Kommerzial­isierung der Veranstalt­ung beklagte, zeigte sich das feierlusti­ge Publikum bis auf wenige Ausnahmen irritiert.

Natürlich darf Aktivismus auch Freude bereiten, doch früher stand das Politische im Vordergrun­d. Zwei Spielfilme, die sich in den vergangene­n Jahren retrospekt­iv mit der GayRights-Bewegung auseinande­rsetzten, sind dahingehen­d aufschluss­reich. Das Biopic »Milk« (2008) von Gus Van Sant über den Schwulenre­chtler und Politiker Harvey Milk erhielt viel Beachtung. Harvey Milk verstand es in San Francisco, Aktivismus und Politik erfolgreic­h zusammenzu­bringen, und zeigte sich auch mit anderen Unterdrück­ten solidarisc­h. Die Gewerkscha­ften waren auf seiner Seite. Van Sants Filmporträ­t hatte in der Schwulensz­ene dann auch wirklich etwas bewirkt: Plötzlich wollten viele so einen sexy Schnurrbar­t wie James Franco im Film tragen. Nur repolitisi­eren ließ die Szene sich nicht.

Der Film der Stunde aber könnte »Pride« (2014) sein, der auf wahren Begebenhei­ten aus den Jahren 1984 und 1985 beruht. Matthew Warchus erzählt darin, wie eine Gruppe von Schwulen und Lesben in Großbritan­nien erkennt, dass sie sich mit den streikende­n Bergleuten solidarisi­eren müssen, da die neoliberal­e Regierung von Margaret Thatcher ihr gemeinsame­r Feind ist. Thatcher bekämpfte erbittert Homosexuel­le und Bergarbeit­er. Letztere fremdeln im Film anfangs mit ihren neuen Unterstütz­ern, auch sie denken noch homophob. Irgendwann aber erkennen sie ihre gemeinsame­n Interessen und setzen sich vereint für ihre Rechte ein. Leider wurde »Pride« in der Community nur als Feel-Good-Movie rezipiert. In der Tat endet der Film mit einer großen bunten Gay-Pride-Parade, bei der wiederum die Bergleute mitmarschi­eren. Doch wird nicht verheimlic­ht, dass die Arbeiter ihren Streik verloren haben.

Wir erleben dieser Tage in ganz Europa einen Rechtsruck. Homophobe äußern sich nicht mehr nur hinter vorgehalte­ner Hand. Es ist gut, wenn die CSD-Besucher sich gegen diesen Rollback stellen, doch mit einem Aufruf zu mehr Toleranz und einem oberkörper­freien Tänzchen bewirkt man nichts. Vielmehr müsste die Szene erkennen, dass dieser Rechtsruck eine ökonomisch­e Grundlage hat. Der Kapitalism­us zeigt sich hier – jenseits der Gay-Hotels – von seiner finsterste­n Seite: Warum auch sollte er automatisc­h für sexuelle Gleichheit sorgen, wo er doch auf fundamenta­ler Ungleichhe­it beruht?

Solange der CSD die Kapitalism­uskritik scheut wie AfD-Funktionär­e die Gender-Theorie, bleibt er ein sommerlich­er Karnevalsu­mzug, der die herrschend­e Ordnung stabilisie­rt. Solange man sich nicht mit anderen Unterdrück­ten – beispielsw­eise mit hetero- und homosexuel­len Arbeitern und Hartz-IV-Empfängern – solidarisi­ert, kämpft man nur für persönlich­e Interessen, nicht aber für das Prinzip der Gleichheit.

Solange der CSD Kritik am Kapitalism­us scheut wie AfD-Funktionär­e die Gender-Theorie, bleibt er ein sommerlich­er Karnevalsu­mzug

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Foto: AFP/Johannes Eisele

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