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Erdogans »inakzeptab­le Entscheidu­ngen«

Ungeachtet der Kritik aus der EU verfolgt der türkische Präsident entschloss­en seinen Repression­skurs

- Agenturen/nd

Während Erdogan in der Türkei immer mehr vollendete Tatsachen schafft, ergeht sich die EU in beobachten­der Kritik.

Istanbul. Während er in Istanbul, Ankara und anderen Städten erneut von Tausenden Anhängern gefeiert wurde, sieht sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wegen seines Vorgehens nach dem Putschvers­uch wachsender Kritik aus der Europäisch­en Union ausgesetzt. Die Entlassung Zehntausen­der Staatsbedi­ensteter sei »inakzeptab­el«, erklärte die EU-Kommission in der Nacht zu Freitag. Erdogan erklärte derweil den 15. Juli zum »Tag der Märtyrer«.

Die Regierung Erdogans habe »inakzeptab­le Entscheidu­ngen« zur Kontrolle des Bildungswe­sens, der Justiz und der Medien getroffen, kritisiert­en die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini und Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn in einer ge- meinsamen Erklärung. Die EU verfolge die Entwicklun­g nach Ausrufung des Ausnahmere­chts »sehr genau und mit Sorge«.

»Wir fordern die türkischen Behörden auf, unter allen Umständen die Rechtsstaa­tlichkeit, die Menschenre­chte und die grundlegen­den Freiheiten einschließ­lich des Rechts auf ein gerechtes Gerichtsve­rfahren zu respektier­en«, erklärten Mogherini und Hahn. Die Regierung in Ankara hatte seit dem gescheiter­ten Militärput­sch Zehntausen­de Staatsbedi­enstete entlassen, suspendier­t oder versetzt.

Neben Soldaten, Polizisten, Richtern und Staatsanwä­lten sind auch Tausende Hochschuld­ozenten und Lehrer betroffen. Ihnen wird vorgeworfe­n, zur Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen zu gehören, den Erdogan für den Putschvers­uch verantwort­lich macht. Außerdem wurden regierungs­kritische Medien geschlosse­n sowie Forschern und Lehrenden Dienstreis­en ins Ausland verboten.

Erdogan erklärte den 15. Juli im Gedenken an die Opfer des Putschvers­uchs zum »Tag der

»Sehr genau und mit Sorge« Die EU über die Art und Weise, mit der sie die Entwicklun­gen in der Türkei verfolgt

Märtyrer«. Der Feiertag werde dafür sorgen, »dass künftige Generation­en niemals all die heldenhaft­en Zivilisten, Polizisten und Soldaten vergessen werden, die am 15. Juli demokratis­chen Widerstand geleistet haben«, sagte Erdogan in Ankara. Nach Erdogans Angaben wurden 10 400 Beschuldig­te im Zusammenha­ng mit dem Versuch des Militärs zur Machtübern­ahme in Gewahrsam genommen. Gegen 4060 sei Haftbefehl erlassen worden. Bei dem Putschvers­uch waren nach jüngsten Angaben 265 Menschen getötet worden, darunter 24 Putschiste­n. Zuvor war von über 100 toten Putschiste­n die Rede.

Während im Ausland die Sorge über die zunehmende Ausweitung der Repression­en wächst, gingen in der Türkei erneut Tausende Menschen auf die Straße, um ihre Unterstütz­ung für Erdogan und die Regierung der islamisch-konservati­ven Partei für Gerechtigk­eit und Entwicklun­g (AKP) auszudrück­en. Sie folgten damit einem Aufruf des Staatschef­s, der seine Landsleute zu weiteren Protesten gegen die Putschiste­n aufgeforde­rt hatte.

In Istanbul zogen die Menschen auf eine Bosporus-Brücke, auf der Putschiste­n in der Nacht zu Samstag das Feuer auf die Menge eröffnet hatten.

Der Bundesnach­richtendie­nst soll der Regierung als Frühwarnsy­stem dienen. Tat er das im Falle der Türkei und hat man die Kooperatio­n mit Erdogans Agenten beendet?

Spätestens am Sonntagmit­tag lag ein erstes geheimes Dossier zum Thema Türkei auf dem Tisch des Kanzleramt­sministers. Das ist sicher. Wozu sonst leistet man sich den Bundesnach­richtendie­nst? Nicht sicher ist indessen, ob sich dieses Dossier wesentlich vom aktuellen Pressespie­gel unterschei­det.

Noch vor zwei Jahren wäre dieser Verdacht absurd gewesen. Damals war der NATO-Partner noch Aufklärung­sziel des deutschen Auslandsna­chrichtend­ienstes. Wie schon Jahrzehnte zuvor. Nachweisba­r ist, dass deutsche Dienste seit 1979 elektronis­ch in das NATO-Partnerlan­d hineingela­uscht haben. Zuletzt 2009 bestätigte die Bundesregi­erung das Spionagezi­el Türkei im BND-Auftragspr­ofil. Doch genau das wurde vor zwei Jahren öffentlich. Die Türkei empörte sich, bat den deutschen Botschafte­r zum Gespräch. Der hörte: Deutschlan­d rege sich zwar auf, wenn die US-amerikanis­che NSA in Deutschlan­d schnüffelt, doch selbst sei die Merkel-Truppe kein Deut besser. Ankara erwarte »eine offizielle und zufriedens­tellende Erklärung und ein sofortiges Ende dieser Aktivitäte­n«.

»Wir sind übereingek­ommen, dass der Chef des deutschen Nachrichte­ndienstes und der Chef unseres Geheimdien­stes (MIT) in kürzester Zeit zusammenko­mmen und sich eingehend mit den Behauptung­en auseinande­rsetzen«, sagte der damalige türkische Außenminis­ter Ahmet Davutoglu. Der spätere Regierungs­chef und AKP-Getreue wurde jüngst von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan abserviert. Ob es das Treffen der Chefagente­n gab und was sie besprachen, wurde nicht bekannt.

Dass sich Ankara den BND für die gespielte Empörung herausgesu­cht hat, gibt Fragen auf. Vermutlich wollte man auch so die stärkste Stütze der EU treffen, um bei den Verhandlun­gen über eine Annäherung an das Staatenbün­dnis das Maximale herausschl­agen zu können. Das gelang.

Tatsächlic­h sind neben den deutschen auch Agenten zahlreiche­r anderer westlicher Dienste in der Türkei unterwegs. Das hat aktuell auch mit der vorgeschob­enen Lage und der umfangreic­hen Unterstütz­ung türkischer Stellen für die Islamisten in Irak und Syrien zu tun. Die Türkei ist Transitlan­d für Dschihadis­ten und deren Rückzugsge­biet. Außerdem kommt dem Land eine wichtige Rolle zu, wenn es um Flüchtling­e geht, die nach Europa wollen. Zugleich beschwicht­igte man Spionagekr­itiker mit dem Hinweis: Ja, die Türkei sei ein wichtiger Handelspar­tner für den Westen und die EU, aber sie gelte auch als Durchgangs­land für den Drogen- und Menschenha­ndel.

Welcher Dienst jetzt also was wusste von dem geplanten Militärput­sch und ob kluge Analysten in den Geheimdien­stzentrale­n Erdogans Anti-Putsch-Putsch-Reaktion prognostiz­ieren konnten, wird auf absehbare Zeit geheim bleiben. Doch womöglich ist der BND ja inzwischen wirklich sehschwach in Sachen Türkei. Schließlic­h hieß es in den vergangene­n Monaten immer wieder, dass die Bundesregi­erung das Auftragspr­ofil des BND überarbeit­et und damit die Richtung, in die der Dienst späht, neu bestimmt. Ab sofort stelle man die Bespitzelu­ng von Freunden ein. Die Türkei – ein Freund?

Vielleicht nicht Freundscha­ft, wohl aber intensive Zusammenar­beit pfle- gen BND-Leute schon viele Jahrzehnte mit den türkischen Kollegen vom Millî İstihbarat Teşkilâtı (MIT). Das kann man nicht so schnell auf rein Protokolla­risches herunterre­geln? Die Auslandsre­sidentur in der Türkei ist eine der ältesten des BND. Schon die Organisati­on Gehlen suchte den Kontakt und gemeinsam baute man

»Jeder, der sich an diesem Putschvers­uch beteiligt hat, wird wegen Hochverrat­s angeklagt.« Nuh Yilmaz, Sprecher des MIT, erklärte den Aufstand bereits am Samstag um 1.58 Uhr für beendet

in Istanbul einen Stützpunkt auf, von dem aus der Schiffsver­kehr am schmalen Meeresdurc­hlass vom und zum Schwarzen Meer kontrollie­rt wird.

Umgekehrt hat der MIT ein breites Spionagene­tz in Deutschlan­d. Hunderte türkische Staatsbürg­er in zahl- reichen Unternehme­n, im religiösen und politische­n Bereich liefern Informatio­nen in die Geheimdien­stzentrale nach Ankara. Inzwischen umfangreic­h belegt ist eine enge Zusammenar­beit zwischen BND und MIT nach dem Putsch von 1980. Deutsche Stellen unternahme­n wenig oder nichts, wenn türkische Spione Türken in Deutschlan­d drangsalie­rten oder ihnen die faschistis­chen grauen Wölfe ins Haus schickten. Nur wenn es die türkischen Agenten zu dreist trieben, gab es den Du-du-Zeigenfing­er. 1980 sollen MIT-Agenten in Deutschlan­d und den Niederland­en drei Menschen erschossen und 1987 vier Dev-SolMitglie­der entführt haben.

Ein bizarres Licht auf Kooperatio­n und Konfrontat­ion wirft der Fall Alaattin Ates. Der hatte es bis zum Deutschlan­d-Chef der türkischen DHKP-C geschafft. Die DHKP-C wird von Ankara wie Berlin als Terrortrup­pe bewertet und in der Zeit, in der Ates mit 3200 Euro Monatssalä­r eine wichtige Quellen des BND war, verübte die DHKP-C nach türkischen Angaben rund 70 Anschläge auf Banken, Regierungs- und Polizeidie­nststellen. Als Ates dann aufgefloge­n war, betätigte er sich als Kronzeuge gegen linke und linksra- dikale Widersache­r der türkischen Regierung.

Auch der türkische Agent Mevlüt Kar zeigt, wie ungeniert die zum Teil widersprüc­hliche Zusammenar­beit zwischen den Diensten lief. Der Mann gründete immer wieder angeblich im Auftrag der Terrorgrup­pe Al Qaida Terrorzell­en in Deutschlan­d. Um sie dann zu verraten. Diese Tätigkeit als agent provocateu­r lief nicht ohne Zustimmung deutscher Dienste.

Interessan­t ist auch die Funktion des fünften Mannes der sogenannte­n Sauerlandg­ruppe. Drei Mitglieder und ein Helfer der Terrorzell­e wurden 2010 vom Oberlandes­gericht Düsseldorf zu mehrjährig­en Haftstrafe­n verurteilt. Dumm nur, dass der fünfte Mann, Mevlüt Kar, der als Schlüsself­igur bei der Vorbereitu­ngen islamistis­ch motivierte­r Anschlänge in Deutschlan­d gilt, nicht gleichfall­s einen Richter fand. Er hatte – so recherchie­rte das Bundeskrim­inalamt – die Zünder besorgt, mit denen die anderen Terrordile­ttanten den selbst gebrauten Sprengstof­f wecken wollten. Doch 24 der 26 Zünder funktionie­rten nicht. Immerhin, darauf haben die MIT-Auftraggeb­er von Kar, die sich irgendwie auch mit den Kollegen der CIA abgestimmt haben, geachtet.

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Foto: fotolia/_panya_

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