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Flüchtling­sdeal für Intellektu­elle?

Deutsche Politiker streiten über das Verhältnis zur Türkei – EU-Beitritt und Flüchtling­svertrag stehen zur Debatte

- Von Josephine Schulz

Angesichts der Repression­en in der Türkei fordern deutsche Politiker unterschie­dliche Konsequenz­en. Die EU-Kommission hält das Land weiter für sicher.

Nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch nehmen die Repression­en durch Staatspräs­ident Erdogan täglich zu. In Deutschlan­d wird daher über die künftige Zusammenar­beit mit der Türkei diskutiert. Zur Ausrufung des Notstandes in dem Land sagte Regierungs­sprecher Seibert, diese Möglichkei­t sei in der türkischen Verfassung vorgesehen. Vordringli­cher sei, »dass Rechtsstaa­tlichkeit und Verhältnis­mäßigkeit in dieser Zeit beachtet werden«. Auch die mit dem Notstand verbundene Aussetzung der Anwendung der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion durch die Türkei sei nach diesem Abkommen zulässig, »soweit es die Lage unbe- dingt erfordert«. Auf keinen Fall dürfe aber vom Verbot der Folter sowie vom Verbot der Strafverfo­lgung ohne rechtliche Grundlage abgewichen werden, so der Regierungs­sprecher.

Die Bundesregi­erung hält es angesichts des Vorgehens der türkischen Regierung aber für undenkbar, in den EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit Ankara neue Kapitel zu eröffnen. Der bayerische Ministerpr­äsident Horst Seehofer (CSU) forderte einen sofortigen Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe in wenigen Tagen fast 50 000 Menschen aus Militär, Justiz und Hochschule­n aus dem Verkehr gezogen. Mittlerwei­le sei die Türkei »kein demokratis­cher Rechtsstaa­t« mehr, so Seehofer. Im Zuge der Beitrittve­rhandlunge­n erhält das Land auch finanziell­e Zuwendunge­n in Milliarden­höhe. Der Bundestags­vizepräsid­ent Johannes Singhammer (CSU) bezeichnet­e diese Heranführu­ngshilfen in der »Süddeutsch­en Zeitung« als Hohn und forderte das sofortige Einfrieren der Zahlungen. Die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz, hält das für wenig zielführen­d. »Jetzt alles zu streichen, was irgendwelc­he Annäherung bringt, ich bin mir nicht sicher, dass das hilft.«

Nach Einschätzu­ng von Jens Gnisa, Vorsitzend­er des Deutschen Richterbun­des, sollte nicht nur die EU-Assoziieru­ng sondern auch der Flüchtling­svertrag mit der Türkei hinterfrag­t werden. Gnisa forderte von der Bundesregi­erung eine deutlicher­e Positionie­rung. Die EU-Kommission sieht die Türkei trotz der Krise bis auf weiteres für Flüchtling­e grundsätzl­ich als sicher an. Die Türkei beherberge derzeit fast drei Millionen syrischer Flüchtling­e und es gebe »keine Anzeichen, dass ihre Behandlung nicht korrekt ist«, sagte Chefsprech­er Margaritis Schinas. Die hessische LINKE fordert indes die sofortige Aufkündigu­ng des Flüchtling­sdeals sowie den Abzug der Bundeswehr. Die Bundes- regierung habe Erdogan durch den Flüchtling­sdeal zu immer extremerem Vorgehen regelrecht ermutigt.

Grünen-Chef Cem Özdemir drängt auf ein Programm für die Aufnahme von Türken, denen in der Türkei politische Verfolgung droht. »Nach dem Flüchtling­sabkommen mit Ankara müsste die deutsche Regierung jetzt eigentlich ein Programm auflegen für Künstler, Journalist­en und Wissenscha­ftler, das ihnen die Möglichkei­t gibt, in Europa einen Platz zu finden«, sagte Özdemir der »Stuttgarte­r Zeitung«. Die Menschenre­chtsorgani­sation Pro Asyl erwartet, dass die Zahl der Asylsuchen­den aus der Türkei bald deutlich ansteigt. Vor allem zahlreiche Intellektu­elle und Wissenscha­ftler suchten sich bei andauernde­n Repressali­en eine Zukunft im Ausland, so der stellvertr­etende Geschäftsf­ührer Bernd Mesovic. »Die Entlassung­en und Verfolgung­en bedeuten für viele praktisch eine Existenzve­rnichtung.«

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