Faktor Arbeit wird entwertet
Automatisierung gefährdet Niedriglohnexportmodell in Schwellen- und Entwicklungsländern
Der schnelle technologische Fortschritt bei Robotern und bei der Automatisierung nimmt Schwellenländern einen Wettbewerbsvorteil: die niedrigen Löhne. Neue Studien warnen vor dramatischen Folgen.
Es sind die ersten Anzeichen einer Zeitenwende: Als Adidas in diesem Frühling verkündete, künftig wieder Schuhe in Deutschland zu produzieren, machte das auch in Asien Schlagzeilen. Die Herstellung solle künftig in den Absatzmärkten stattfinden, um schneller auf Trends oder sogar individuelle Wünsche reagieren zu können, kündigte Konzernchef Heribert Heiner an. Möglich ist die Verlagerung der Fertigung dank neuer
»Die Schwellenländer müssen sich ein neues Wachstumsmodell überlegen.« Aus einer Studie von Citibank und Universität Oxford
Spezialmaschinen, die Schuhe fast gänzlich automatisch herstellen.
Sollte das Beispiel Schule machen, könnte dies dramatische Veränderungen für die Aufholjagd der Schwellenländer bedeuten. Bisher wuchs dort die Mittelschicht dadurch, dass Landarbeiter besser bezahlte Jobs in den Fabriken der Städte fanden, wo günstig für den Export produziert wird. Wenn sich Industrien zurückziehen oder in den Fabriken der Schwellenländer weniger Arbeiter benötigt werden, dürfte das nicht mehr funktionieren: »Industrialisierung wird künftig deutlich weniger Arbeitsplätze entstehen lassen«, warnen Citibank und Universität Oxford in einer gemeinsamen Studie. »Die Schwellenländer müssen sich ein neues Wachstumsmodell überlegen.«
Ökonomen erwarten, dass Roboter selbst anspruchsvolle Tätigkeiten übernehmen können – und dies den Faktor Arbeit dramatisch entwerten könnte. Bisher drehte sich die Diskussion über die Folgen von Robote- risierung und Digitalisierung hauptsächlich darum, was dies für die Industriestaaten bedeutet. Doch Schwellen- und Entwicklungsländer könnte es weit härter treffen. Schließlich verdient dort ein Großteil der Menschen mit eher einfachen Tätigkeiten sein Geld – entsprechend einfach können sie ersetzt werden.
Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation kommt nun zu dem Schluss, dass etwa in Vietnam und Kambodscha 90 Prozent der Jobs in der Textilindustrie in Gefahr sind. Die Weltbank rechnet im diesjährigen »Weltentwicklungsbericht« vor, dass in Thailand und Indien rund 70 Prozent aller aktuellen Arbeitsplätze technisch gesehen bereits durch Roboter ersetzt werden könnten. In Äthiopien sind es sogar 85 Prozent – in den reichen OECD-Staaten dagegen nur 57 Prozent
Nicht nur das Beispiel Adidas zeigt, dass es für ungelernte Arbeiter künftig schwieriger wird. Apple-Zulieferer Foxconn hat im Mai bekannt gegeben, in einer Fabrik in kürzester Zeit rund 60 000 Beschäftigte durch Roboter ersetzt zu haben. Ökonomen zufolge ist ein Industrieroboter bereits im dritten Jahr nach seiner Anschaffung günstiger als ein ungelernter Fabrikarbeiter.
Natürlich sind solche Maschinen prinzipiell gut für eine Wirtschaft: In der Regel steigern sie die Produktivität und sind gerade für die Anhebung des Lebensstandards in Schwellenländern unverzichtbar. Doch wenn die Verbreitung schnell zu gravierender Arbeitslosigkeit führt, stellt sich die Frage, wie der Wohlstand innerhalb der Gesellschaft verteilt werden soll. Weltbank-Autorin Indhira Santos vermutet, dass mittelfristig auch in Schwellenländern über Maßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert werden wird.
Kopfzerbrechen bereitet den Ökonomen, wie ein neues Wachstumsmodell für Schwellenländer aussehen könnte. Citibank und Universität Oxford empfehlen, die Binnennachfrage zu stärken, um als Produktionsstandort und Absatzmarkt attraktiv zu sein. Einigkeit herrscht darüber, dass die Schwellenländer den Bildungsstandard und die Qualifikation der Arbeitskräfte heben müssen. Doch viele können nicht einmal schreiben.