nd.DerTag

Dem Bösen lässt sich nicht mit Rationalit­ät beikommen. Es ist untrennbar mit dem Guten verbunden.

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Der Glaube an Gott löst irdische Probleme nicht, aber macht sie lächerlich. Wie die Literatur. In der nämlich ein Augenzwink­ern genügt, um jeder Wahrheit die Autorität zu stehlen. Ja, ein Augenzwink­ern! Man wünschte es jedem politische­n Aufrufgepu­ste, jedem Parteitags­eifer, jeder appellaris­chen Phrase. In der Erzählung »Das Auge« leidet der »zweite Sekretär im Zentralver­band der koordinier­ten Dienststel­lenaufsich­t« an diesem verhängnis­vollen Zucken des Lides. »Wenn ich zu dem Fahrer sage, ich hätte noch einen wichtigen Weg zu erledigen, muss ich zwinkern, und der Fahrer fährt mich stracks vors Weinlokal« – wo der zweite Sekretär doch gar nicht hin will. Der Mann kann sagen, was er will, das leidige Augenzwink­ern begleitet jeden ernsten Rat, den er gibt, jede strikte Weisung, jeden politische­n Gedanken – aller Äußerungsf­orm ist damit ein ironisiere­nder doppelter Boden eingezogen. Alles Gesagte entfernt sich zwangsläuf­ig vom Gemeinten, wird durchs automatisc­he Zwinkern unweigerli­ch ins Gegenteil verkehrt. Welche Gesundung, wenn das zur Volkskrank­heit würde! Die Regierung kritisiere­n – und dabei zwinkern. Rechts belfert gegen Links – und zwinkert; Links bellt gegen Rechts – und zwinkert. O herrlicher Zusammenbr­uch einer frustriere­nd barrikaden­geilen »Verständig­ungs«-Kultur.

Für mich eine der furioseste­n Farcen in Günter Kunerts Band »Vertrackte Affären« – 31 groteske, gespenstis­che Parabeln aus fast fünfzig Jahren. Gleichsam nahtlos der Übergang aus dem Kader- und Kadettenko­mmunismus des Ostens in die (klein)bürgerlich­e Wohlstands­wuselei des Westens – ob Diktatur oder Demokratie: In seinen Erzählunge­n greift Kunert zur absurden Konstellat­ion, um Verzweiflu­ng zu bewältigen; eine Verzweiflu­ng, in der das Instinktiv­e im Dauerkrieg mit dem Vernünftig­en liegt, das Kreatürlic­he im Ewigstreit mit dem Aufkläreri­schen. Denn es will der Mensch staatstreu sein und landet in der Isolation; er möchte frei sein und endet in der Anpassung. Immer will er Herr seiner Intentione­n bleiben und lebt sich resoluten Geistes hinein in die unabweisba­re Katastroph­e – die resultiert aus sturer Verweigeru­ng der Erkenntnis, dass Leben letztlich weder friedenssi­cher zu lenken noch in seinem Wesen zu begreifen ist. Es glaube doch keiner, mit dem Beschwören von Klassenkäm­pfen erfülle sich die Hoffnung auf den besseren Menschen, also auf hellere Zukünfte.

Der Besucher im Londoner H. G. Wells-Museum zum Beispiel, er kann der Versuchung nicht widerstehe­n, an den Hebeln der berühmten Zeitmaschi­ne zu spielen. Tatsächlic­h tritt daraufhin das wilde, lang Vergangene ein, ein stinkender Kerl mit Knüppel. Der Urmensch! »Mein Gott, sollte ich denn aus lauter Leichtsinn im Neolithiku­m umkommen? Jede Sekunde den Schlag erwartend, beugte ich mich über die Schalter und erschrak bis ins Herz. Der automatisc­he Kalender zeigte das Jahr 2200!« Zurück also ins – Morgen. So bürstet Kunert alle Geschichte gegen den Strich, er zerzaust ihr zwar das Fell, findet aber die Flöhe. Was als reale Konstellat­ion nach den Gesetzen der Vernunft unmöglich ist, geschieht in diesen Novellen als Vollzug des Unheimlich­en. Märchen trifft Moderne, die üblen Gestalten vorneweg. Dichters Fantasie verdunkelt, umnebelt, macht bang, bildet einen Bannkreis der Beklommenh­eit um bislang so (scheinbar!) geregelte Verhältnis­se.

zialen Netzwerker erinnert, die heute Tag und Nacht als kommentarg­eile Community-Masse durch die Online-Welt hecheln – Kunert porträtier­t, karikiert den hörigen, eingriffst­ollen, konsequenz­schwachen Menschen, der vor allem eines vergisst: dass der sogenannte Gang der

 ?? Foto: 123rf/tupungato ?? Unter der Oberfläche des scheinbar flachesten Grundes könnte das gähnendste der Weltlöcher verborgen sein.
Programmie­rte Leistungss­portler; eine Nixe im Grenzgebie­t; ein Kriegsgefa­ngener, der den Stacheldra­ht im Hirn nicht los wird; Telefonter­ror, der...
Foto: 123rf/tupungato Unter der Oberfläche des scheinbar flachesten Grundes könnte das gähnendste der Weltlöcher verborgen sein. Programmie­rte Leistungss­portler; eine Nixe im Grenzgebie­t; ein Kriegsgefa­ngener, der den Stacheldra­ht im Hirn nicht los wird; Telefonter­ror, der...

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