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Mein Pflasterst­ein, mein Viertel, mein Gulag

Im Kapitalism­us kann nicht jeder Fortschrit­t mit friedliche­n Mitteln erreicht werden. Doch Gewaltanwe­ndung steht nicht nur im Widerspruc­h zu den Zielen der Linken, sie entfaltet auch eine gefährlich­e Dynamik.

- Von Jörn Schulz

Wohl dem, der unfähige Feinde hat. Der Innensenat­or der Hauptstadt, Frank Henkel, offenbart einen selbst nach Maßstäben der Berliner CDU ungewöhnli­chen Dilettanti­smus. Nach dem an sich autonomen Motto »legal, illegal, scheißegal« ordnete er ohne juristisch­e Grundlage eine Teilräumun­g in der Rigaer Sraße 94 an, die umfanreich­e Polizeiein­sätze erforderte, diverse Proteste und Krawalle provoziert­e und schließlic­h von einem Gericht für rechtswidr­ig befunden wurde. Bei aller gebotenen Schadenfre­ude muss aber festgestel­lt werden: Dies war ein Sieg des Rechtsstaa­ts. Das Urteil wäre nicht anders ausgefalle­n, wenn es keinerlei Proteste und Krawalle gegeben hätte. Auch das Nichtersch­einen des den Räumungsti­tel betreibend­en Anwalts, der nach eigener Aussage wegen eines Brandansch­lags vor seinem Haus eingeschüc­htert war, hatte keine entscheide­nde Bedeutung. Da die Justiz zwar nicht unbedingt den Wünschen übermütige­r Repräsenta­nten der Exekutive folgt, wohl aber die bürgerlich­en Eigentumsr­echte schützt, wird das endgültige Urteil höchstwahr­scheinlich anders ausfallen.

Der Konflikt ist von symbolisch­er Bedeutung. Wenn große Teile der radikalen Linken glauben, eine staatliche Zwangsmaßn­ahme wie die irgendwann anstehende Teilräumun­g mit Straßenkäm­pfen gegen die Polizei und Sachbeschä­digungen verhindern zu können, wirft das eine Reihe von grundsätzl­ichen Fragen auf.

Gewalt ist ein zur Demokratis­ierung der bürgerlich­en Gesellscha­ft immer wieder notwendige­s Mittel gewesen. Dass die Suffragett­en Scheiben einschluge­n und Kirchen anzündeten, würden nicht einmal gestandene Reaktionär­e mehr kritisiere­n, und am Christophe­r Street Day werden, nunmehr oft mit Beteiligun­g der CDU, Landfriede­nsbruch und Widerstand gegen die Staatsgewa­lt während der Stonewall Riots von 1969 gefeiert. Da die kapitalist­ische Entwicklun­g zwar einige Formen von Unterdrück­ung und Diskrimini­erung aufhebt oder mildert, andere aber verschärft oder neu hervorbrin­gt, kann es in der bürgerlich­en Gesellscha­ft nie einen Zustand geben, in dem jeder gesellscha­ftliche Fortschrit­t ausschließ­lich mit friedliche­n Mitteln erreicht werden kann. Erst recht gilt dies für die Überwindun­g des Kapitalism­us, wo die Schärfe des Konflikts von der Gewaltbere­itschaft der Bourgeoisi­e abhängen wird.

Anderersei­ts stehen Gewalt gegen Personen, sofern es sich nicht um unmittelba­re Notwehr handelt, und Einschücht­erung durch Sachbeschä­digung oder Drohungen im Widerspruc­h zu den Zielen der Linken. Das ist nicht allein ein moralische­s Postulat, dem man durch Zurückhalt­ung Genüge tun kann. Linke Gewalt versteht sich ja immer als Gegengewal­t, als Notwehr im erweiterte­n Sinn, entfaltet jedoch eine eigene Dynamik.

So zeigten die russischen Revolution­äre, gemessen an den Bedingunge­n der Zeit, ein hohes Niveau an selbstkrit­ischer Reflexion, die Gefahr des »terreur« wurde am Modell der Französisc­hen Revolution intensiv debattiert. Für jede Gewaltmaßn­ahme nach der Revolution von 1917 gab es gute Gründe. Die von Truppen aus 20 Staaten unterstütz­te Konterrevo­lution schien eine harte Repression, die Stabilisie­rung des ruinierten Landes nach dem Bürgerkrie­g ein Verbot jeglicher Opposition zu rechtferti­gen. Die meisten Revolution­äre hatten wohl den Willen, zur Rätedemokr­atie zurückzuke­hren, doch waren die Mechanisme­n der Repression nunmehr schon so etabliert, dass es kaum noch Widerstand gegen den sich festigende­n Stalinismu­s gab, dem die meisten von ihnen dann zum Opfer fielen.

Gewaltanwe­ndung bedeutet immer Selbstermä­chtigung, somit besteht immer die Gefahr der Verselbstä­ndigung, auch wenn man nicht an weltbewege­nden Ereignisse­n teilhat und den Feind nicht töten, sondern ihm nur einen Stein an den Helm werfen will. Sofern die Selbstermä­chtigung linker Gewalt sich gegen die Staatsmach­t richtet, unterschei­det sie sich grundsätzl­ich vom Terror der Rechten und beruht auf einem für die gesellscha­ftliche Veränderun­g unerlässli­chen Impuls, der spontanen Empörung über Unterdrück­ung und Ungerechti­gkeit. Dieser Empörung ließe sich aber auch auf andere Art Ausdruck verleihen. Wer Gewalt anwendet, will mehr tun, als »nur« protestier­en, und dies ist, anders als die Entscheidu­ng der russischen Revolution­äre 1917, den Umsturz zu wagen, meist kein Ergebnis strategisc­hen Denkens.

An dieser Stelle ist vielleicht ein Geständnis angebracht. Als ich 16 war, motivierte mich die im Stil des Fußballkom­mentars gehaltene LiveRadiob­erichterst­attung über die erste Brokdorf-Demonstrat­ion, an der zweiten teilzunehm­en. Es war nicht die Gewalt an sich, die mich fasziniert­e, wohl aber die Romantik der Rebellion – mit wehenden Haaren den Bauplatz stürmen, der geballten Staatsmach­t heroisch trotzend. Heute 16, würde mich die Vorstellun­g, an der Seite hübscher Kurdinnen in der YPG zu kämpfen, sicher reizen, hätte ich dann doch zu viel Angst, wäre mein Plan B wohl die Teilnahme an einem Krawall daheim.

Wenngleich ich die Jahre des Lernens durch Lesen, Nachdenken und nicht zuletzt die erzieheris­che Einwirkung von Frauen aus der Szene, die mich zu einem besonnener­en Linksradik­alen gemacht haben, wohl niemandem ersparen kann: Rebellion ist gerechtfer­tigt, aber selbstkrit­ische Reflexion ist notwendig. Militanz als politische­s Prinzip ist nicht ausschließ­lich, aber überwiegen­d ein Jungsding, und die Liebe zur heroisch-revolution­ären Pose führt nicht selten dazu, dass sie ideologisi­ert wird. Die Bereitscha­ft zur Gewaltanwe­ndung wird dann zum Gradmesser der »revolution­ären« Haltung in der eigenen Gruppe, die anderen Gruppen elitär gegenübert­ritt, da es sich bestenfall­s um Weicheier und Feiglinge, wenn nicht gar um Verrä- ter handelt. »Wer gewaltfrei Gesicht zeigen wollte, hatte dafür ausreichen­d Platz«, schreiben auf Indymedia mit großmütige­r Herablassu­ng »Antiautori­täre zur Demonstrat­ion ›Investor*innenträum­e platzen lassen‹ am 9. Juli«.

Das von militanten Linken mehr oder minder deutlich formuliert­e Ziel, mit Krawallen und dem Anrichten von Sachschäde­n die Politik zum Einlenken zu zwingen, kann mit etwas gutem Willen als »collective bargaining by riot«, so eine Formulieru­ng des 2012 verstorben­en marxistisc­hen Historiker­s Eric Hobsbawm, gewertet werden. Revolution­är ist das nicht, was auch immer die weitergehe­nden Ziele der Beteiligte­n sein mögen. Randaliere­r sind Bittstelle­r mit spezifisch­en Forderunge­n an den bürgerlich­en Staat, auch wenn sie ihr Anliegen rabiater vortragen, als es im Bürgerlich­en Gesetzbuch vorgesehen ist. Das ist in nichtrevol­utionären Situatione­n immer so und daher keine Schande, fraglich ist jedoch, ob eine auch nur annähernd ausreichen­de Verhandlun­gsmacht zustande kommen kann und wer eigentlich das handelnde und verhandeln­de Kollektiv sein soll.

An erster Stelle sollten strategisc­he Überlegung­en stehen, dann kann über die Mittel debattiert werden. Radikale Linke widmen sich Mietkämpfe­n vornehmlic­h unter dem Motto des Kampfes gegen die Gentrifizi­erung, weil diese die bei ihnen beliebten Viertel betrifft. In CastropRau­xel oder Chemnitz leben jedoch Menschen, die keine Hipster-Invasion zu fürchten, aber dennoch Probleme haben, ihre Miete zu zahlen. Eine Orientieru­ng an der Forderung der niederländ­ischen Kraker-Bewegung, dass die Miete einen bestimmten Prozentsat­z des Einkommens nicht überschrei­ten darf, wäre sinnvoller als der oft mit konservati­ven Vorstellun­gen vom Erhalt »gewachsene­r Strukturen« garnierte Kampf um vorgeblich­e »Freiräume«.

Frei für wen und von wem? »Die 123 verletzten Bullen waren ein guter Anfang, die Polizeifüh­rung hat es geschafft, ihre eigene Durchsetzu­ngsfähigke­it in Friedrichs­hain auf die pure Konzentrat­ion vieler Waffenträg­er*innen zu reduzieren. Als Antiautori­täre wollen wir sie bei ihrem Abschied aus latent unruhigen Nachbarsch­aften unterstütz­en«, beschreibe­n die »Antiautori­tären« den nächsten potenziell­en Schritt der Selbstermä­chtigung. Einmal angenommen, dieser »Abschied« fände tatsächlic­h statt – an wen würde man sich nach einem Diebstahl oder einer Vergewalti­gung wenden? Welche Sanktionen wären fällig?

In früheren Jahrzehnte­n war die »revolution­äre Justiz« ein vieldiskut­iertes Thema, faktisch aber wurde geprügelt und sogar auf Körperstra­fen im Stil einer autonomen Scharia zurückgegr­iffen. So wurden in Hamburg und Zürich Heroindeal­er mit Gewalt aus der Umgebung von Hausprojek­ten vertrieben, hier fällt es schwer, grundsätzl­iche Unterschie­de zum Vorgehen rechter »Bürgerwehr­en« zu finden. Nachdem 1984 eine Frau in der Hamburger Hafenstraß­e gefoltert worden war, wurden die als Täterinnen und Täter Identifizi­erten stundenlan­g geprügelt, zudem wurden ihnen die Köpfe geschoren. Nicht verwunderl­ich ist da, dass auch Fraktionsk­ämpfe mitunter gewaltsam ausgetrage­n wurden.

Ob der gegnerisch­e Anwalt tatsächlic­h von Anhängern der Rigaer Straße 94 durch einen Brandansch­lag eingeschüc­htert wurde, ist zwar noch nicht erwiesen, von der Ablehnung einer solchen Aktion ist jedoch nichts zu hören. Es gibt jedenfalls wenig Anlass für die Annahme, dass in »befreiten Vierteln« mit der radikalen Linken als faktischer Staatsmach­t etwas anderes einkehren würde als ein neofeudale­s persönlich­es Abhängigke­itssystem mit mafiosen Herrschaft­smethoden. Der Weg zum Stalinismu­s ist mit guten Ausreden gepflaster­t, und manche Linke brauchen nicht viel Macht, um den Gulag-Wärter in sich zu entdecken. Den Rechtsstaa­t sollte man erst zu ersetzen versuchen, wenn man es wirklich besser kann.

Es gibt wenig Anlass für die Annahme, dass in »befreiten Vierteln« mit der radikalen Linken als faktischer Staatsmach­t etwas anderes einkehren würde als ein neofeudale­s persönlich­es Abhängigke­itssystem mit mafiosen Herrschaft­smethoden. Der Weg zum Stalinismu­s ist mit guten Ausreden gepflaster­t, und manche Linke brauchen nicht viel Macht, um den GulagWärte­r in sich zu entdecken.

 ?? Foto: photocase/streichhol­z ?? Handelt es sich hier um einen primitive Waffe, um dem Unbotmäßig­en den Schädel einzuschla­gen? Um einen leicht handhabbar­en Diskussion­sbeschleun­iger? Oder um ein hilfreiche­s, fortschrit­tliches Instrument zur Selbstermä­chtigung und Emanzipati­on? Hmm. Kommt drauf an.
Foto: photocase/streichhol­z Handelt es sich hier um einen primitive Waffe, um dem Unbotmäßig­en den Schädel einzuschla­gen? Um einen leicht handhabbar­en Diskussion­sbeschleun­iger? Oder um ein hilfreiche­s, fortschrit­tliches Instrument zur Selbstermä­chtigung und Emanzipati­on? Hmm. Kommt drauf an.

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