Mein Pflasterstein, mein Viertel, mein Gulag
Im Kapitalismus kann nicht jeder Fortschritt mit friedlichen Mitteln erreicht werden. Doch Gewaltanwendung steht nicht nur im Widerspruch zu den Zielen der Linken, sie entfaltet auch eine gefährliche Dynamik.
Wohl dem, der unfähige Feinde hat. Der Innensenator der Hauptstadt, Frank Henkel, offenbart einen selbst nach Maßstäben der Berliner CDU ungewöhnlichen Dilettantismus. Nach dem an sich autonomen Motto »legal, illegal, scheißegal« ordnete er ohne juristische Grundlage eine Teilräumung in der Rigaer Sraße 94 an, die umfanreiche Polizeieinsätze erforderte, diverse Proteste und Krawalle provozierte und schließlich von einem Gericht für rechtswidrig befunden wurde. Bei aller gebotenen Schadenfreude muss aber festgestellt werden: Dies war ein Sieg des Rechtsstaats. Das Urteil wäre nicht anders ausgefallen, wenn es keinerlei Proteste und Krawalle gegeben hätte. Auch das Nichterscheinen des den Räumungstitel betreibenden Anwalts, der nach eigener Aussage wegen eines Brandanschlags vor seinem Haus eingeschüchtert war, hatte keine entscheidende Bedeutung. Da die Justiz zwar nicht unbedingt den Wünschen übermütiger Repräsentanten der Exekutive folgt, wohl aber die bürgerlichen Eigentumsrechte schützt, wird das endgültige Urteil höchstwahrscheinlich anders ausfallen.
Der Konflikt ist von symbolischer Bedeutung. Wenn große Teile der radikalen Linken glauben, eine staatliche Zwangsmaßnahme wie die irgendwann anstehende Teilräumung mit Straßenkämpfen gegen die Polizei und Sachbeschädigungen verhindern zu können, wirft das eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf.
Gewalt ist ein zur Demokratisierung der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder notwendiges Mittel gewesen. Dass die Suffragetten Scheiben einschlugen und Kirchen anzündeten, würden nicht einmal gestandene Reaktionäre mehr kritisieren, und am Christopher Street Day werden, nunmehr oft mit Beteiligung der CDU, Landfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt während der Stonewall Riots von 1969 gefeiert. Da die kapitalistische Entwicklung zwar einige Formen von Unterdrückung und Diskriminierung aufhebt oder mildert, andere aber verschärft oder neu hervorbringt, kann es in der bürgerlichen Gesellschaft nie einen Zustand geben, in dem jeder gesellschaftliche Fortschritt ausschließlich mit friedlichen Mitteln erreicht werden kann. Erst recht gilt dies für die Überwindung des Kapitalismus, wo die Schärfe des Konflikts von der Gewaltbereitschaft der Bourgeoisie abhängen wird.
Andererseits stehen Gewalt gegen Personen, sofern es sich nicht um unmittelbare Notwehr handelt, und Einschüchterung durch Sachbeschädigung oder Drohungen im Widerspruch zu den Zielen der Linken. Das ist nicht allein ein moralisches Postulat, dem man durch Zurückhaltung Genüge tun kann. Linke Gewalt versteht sich ja immer als Gegengewalt, als Notwehr im erweiterten Sinn, entfaltet jedoch eine eigene Dynamik.
So zeigten die russischen Revolutionäre, gemessen an den Bedingungen der Zeit, ein hohes Niveau an selbstkritischer Reflexion, die Gefahr des »terreur« wurde am Modell der Französischen Revolution intensiv debattiert. Für jede Gewaltmaßnahme nach der Revolution von 1917 gab es gute Gründe. Die von Truppen aus 20 Staaten unterstützte Konterrevolution schien eine harte Repression, die Stabilisierung des ruinierten Landes nach dem Bürgerkrieg ein Verbot jeglicher Opposition zu rechtfertigen. Die meisten Revolutionäre hatten wohl den Willen, zur Rätedemokratie zurückzukehren, doch waren die Mechanismen der Repression nunmehr schon so etabliert, dass es kaum noch Widerstand gegen den sich festigenden Stalinismus gab, dem die meisten von ihnen dann zum Opfer fielen.
Gewaltanwendung bedeutet immer Selbstermächtigung, somit besteht immer die Gefahr der Verselbständigung, auch wenn man nicht an weltbewegenden Ereignissen teilhat und den Feind nicht töten, sondern ihm nur einen Stein an den Helm werfen will. Sofern die Selbstermächtigung linker Gewalt sich gegen die Staatsmacht richtet, unterscheidet sie sich grundsätzlich vom Terror der Rechten und beruht auf einem für die gesellschaftliche Veränderung unerlässlichen Impuls, der spontanen Empörung über Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Dieser Empörung ließe sich aber auch auf andere Art Ausdruck verleihen. Wer Gewalt anwendet, will mehr tun, als »nur« protestieren, und dies ist, anders als die Entscheidung der russischen Revolutionäre 1917, den Umsturz zu wagen, meist kein Ergebnis strategischen Denkens.
An dieser Stelle ist vielleicht ein Geständnis angebracht. Als ich 16 war, motivierte mich die im Stil des Fußballkommentars gehaltene LiveRadioberichterstattung über die erste Brokdorf-Demonstration, an der zweiten teilzunehmen. Es war nicht die Gewalt an sich, die mich faszinierte, wohl aber die Romantik der Rebellion – mit wehenden Haaren den Bauplatz stürmen, der geballten Staatsmacht heroisch trotzend. Heute 16, würde mich die Vorstellung, an der Seite hübscher Kurdinnen in der YPG zu kämpfen, sicher reizen, hätte ich dann doch zu viel Angst, wäre mein Plan B wohl die Teilnahme an einem Krawall daheim.
Wenngleich ich die Jahre des Lernens durch Lesen, Nachdenken und nicht zuletzt die erzieherische Einwirkung von Frauen aus der Szene, die mich zu einem besonneneren Linksradikalen gemacht haben, wohl niemandem ersparen kann: Rebellion ist gerechtfertigt, aber selbstkritische Reflexion ist notwendig. Militanz als politisches Prinzip ist nicht ausschließlich, aber überwiegend ein Jungsding, und die Liebe zur heroisch-revolutionären Pose führt nicht selten dazu, dass sie ideologisiert wird. Die Bereitschaft zur Gewaltanwendung wird dann zum Gradmesser der »revolutionären« Haltung in der eigenen Gruppe, die anderen Gruppen elitär gegenübertritt, da es sich bestenfalls um Weicheier und Feiglinge, wenn nicht gar um Verrä- ter handelt. »Wer gewaltfrei Gesicht zeigen wollte, hatte dafür ausreichend Platz«, schreiben auf Indymedia mit großmütiger Herablassung »Antiautoritäre zur Demonstration ›Investor*innenträume platzen lassen‹ am 9. Juli«.
Das von militanten Linken mehr oder minder deutlich formulierte Ziel, mit Krawallen und dem Anrichten von Sachschäden die Politik zum Einlenken zu zwingen, kann mit etwas gutem Willen als »collective bargaining by riot«, so eine Formulierung des 2012 verstorbenen marxistischen Historikers Eric Hobsbawm, gewertet werden. Revolutionär ist das nicht, was auch immer die weitergehenden Ziele der Beteiligten sein mögen. Randalierer sind Bittsteller mit spezifischen Forderungen an den bürgerlichen Staat, auch wenn sie ihr Anliegen rabiater vortragen, als es im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgesehen ist. Das ist in nichtrevolutionären Situationen immer so und daher keine Schande, fraglich ist jedoch, ob eine auch nur annähernd ausreichende Verhandlungsmacht zustande kommen kann und wer eigentlich das handelnde und verhandelnde Kollektiv sein soll.
An erster Stelle sollten strategische Überlegungen stehen, dann kann über die Mittel debattiert werden. Radikale Linke widmen sich Mietkämpfen vornehmlich unter dem Motto des Kampfes gegen die Gentrifizierung, weil diese die bei ihnen beliebten Viertel betrifft. In CastropRauxel oder Chemnitz leben jedoch Menschen, die keine Hipster-Invasion zu fürchten, aber dennoch Probleme haben, ihre Miete zu zahlen. Eine Orientierung an der Forderung der niederländischen Kraker-Bewegung, dass die Miete einen bestimmten Prozentsatz des Einkommens nicht überschreiten darf, wäre sinnvoller als der oft mit konservativen Vorstellungen vom Erhalt »gewachsener Strukturen« garnierte Kampf um vorgebliche »Freiräume«.
Frei für wen und von wem? »Die 123 verletzten Bullen waren ein guter Anfang, die Polizeiführung hat es geschafft, ihre eigene Durchsetzungsfähigkeit in Friedrichshain auf die pure Konzentration vieler Waffenträger*innen zu reduzieren. Als Antiautoritäre wollen wir sie bei ihrem Abschied aus latent unruhigen Nachbarschaften unterstützen«, beschreiben die »Antiautoritären« den nächsten potenziellen Schritt der Selbstermächtigung. Einmal angenommen, dieser »Abschied« fände tatsächlich statt – an wen würde man sich nach einem Diebstahl oder einer Vergewaltigung wenden? Welche Sanktionen wären fällig?
In früheren Jahrzehnten war die »revolutionäre Justiz« ein vieldiskutiertes Thema, faktisch aber wurde geprügelt und sogar auf Körperstrafen im Stil einer autonomen Scharia zurückgegriffen. So wurden in Hamburg und Zürich Heroindealer mit Gewalt aus der Umgebung von Hausprojekten vertrieben, hier fällt es schwer, grundsätzliche Unterschiede zum Vorgehen rechter »Bürgerwehren« zu finden. Nachdem 1984 eine Frau in der Hamburger Hafenstraße gefoltert worden war, wurden die als Täterinnen und Täter Identifizierten stundenlang geprügelt, zudem wurden ihnen die Köpfe geschoren. Nicht verwunderlich ist da, dass auch Fraktionskämpfe mitunter gewaltsam ausgetragen wurden.
Ob der gegnerische Anwalt tatsächlich von Anhängern der Rigaer Straße 94 durch einen Brandanschlag eingeschüchtert wurde, ist zwar noch nicht erwiesen, von der Ablehnung einer solchen Aktion ist jedoch nichts zu hören. Es gibt jedenfalls wenig Anlass für die Annahme, dass in »befreiten Vierteln« mit der radikalen Linken als faktischer Staatsmacht etwas anderes einkehren würde als ein neofeudales persönliches Abhängigkeitssystem mit mafiosen Herrschaftsmethoden. Der Weg zum Stalinismus ist mit guten Ausreden gepflastert, und manche Linke brauchen nicht viel Macht, um den Gulag-Wärter in sich zu entdecken. Den Rechtsstaat sollte man erst zu ersetzen versuchen, wenn man es wirklich besser kann.
Es gibt wenig Anlass für die Annahme, dass in »befreiten Vierteln« mit der radikalen Linken als faktischer Staatsmacht etwas anderes einkehren würde als ein neofeudales persönliches Abhängigkeitssystem mit mafiosen Herrschaftsmethoden. Der Weg zum Stalinismus ist mit guten Ausreden gepflastert, und manche Linke brauchen nicht viel Macht, um den GulagWärter in sich zu entdecken.