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»EU-Standards könnten sinken«

- Von Iris Rapoport, Boston und Berlin, und Viola Berkling, Oschersleb­en

»EU-Standards für Lebensmitt­el könnten sinken« – So lautet eine der Warnungen vor dem TTIP-Abkommen. Doch Lebensmitt­el-Standards kann die EU auch ganz gut allein hinwegfege­n. Dabei fing alles so hoffnungsv­oll an. 2006 beschloss die EU-Kommission mit der Health-Claims-Verordnung, dem Wildwuchs fantasievo­ller, oft irreführen­der Gesundheit­sversprech­en der Lebensmitt­elindustri­e einen Riegel vorzuschie­ben. Seit 2012 darf nur noch mit in der HealthClai­ms-Verordnung erlaubten Angaben geworben werden.

Die deutsche Verbrauche­rzentrale sah damals »gesundheit­sbezogene Werbeversp­rechen unter Kontrolle«. Toll, dachte man, Vernunft und wissenscha­ftliche Einsicht haben gesiegt. Beim beruhigten Zurücklehn­en übersah man leicht, was da weiter stand: »Der Kernpunkt der Verordnung steht noch aus: die Festlegung der so genannten Nährwertpr­ofile.« Diese Profile sollten Grenzwerte für Zucker, Fett und Salz in verarbeite­ten Lebensmitt­eln festlegen. Würden diese nicht eingehalte­n, sollte jegliches Gesundheit­sversprech­en verboten sein – auch wenn gesundheit­sfördernde Zusätze im Produkt sein sollten.

Doch die Lebensmitt­elindustri­e hat die Festlegung solcher Nährwertpr­ofile torpediert – und mehr noch, das Anliegen der Verordnung ins Gegenteil verkehrt. Die etwa 250 von der EU erlaubten »Health Claims« – etwa zu Vitaminen – werden genutzt, um ungesunden Lebensmitt­eln einen gesunden An- strich zu geben und so den Verbrauche­r zu täuschen! In einer umfassende­n Studie hat die Organisati­on »foodwatch« in diesem Jahr nachgewies­en, dass 90 Prozent der in Deutschlan­d mit Vitaminen beworbenen Lebensmitt­el zu fett, zu süß oder zu salzig – kurz: ungesund – sind!

Ausgangspu­nkt waren die Standards der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO. Deren Regionalbü­ro für Europa hatte angesichts zunehmende­r ernährungs­bedingter Krankheite­n und grassieren­den Übergewich­ts schon im zartesten Alter Nährwertpr­ofile für Kinder erstellt. Es scheint sehr sinnvoll, diese Empfehlung­en der WHO für Kinder auch für Erwachsene zu nutzen. Dem steht die Einschätzu­ng der Süßwarenin­dustrie entgegen, dass wissenscha­ftlich fundierte Empfehlung­en nicht möglich seien. Zudem drohte man, Nährwertpr­ofile würden einer Überprüfun­g vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f nicht standhalte­n.

Und unsere europäisch­e Realität? Mitte April dieses Jahres haben die EU-Parlamenta­rier für eine Streichung der Nährwertpr­ofile aus der Health-Claims-Verordnung gestimmt. Damit wären alle bisher in den Health Claims zugelassen­en gesundheit­sbezogenen Aussagen Makulatur. Wem waren die Parlamenta­rier verpflicht­et – ihrem Gewissen, wissenscha­ftlichen Einsichten oder den Interessen der Lebensmitt­ellobby?

Es bedarf wahrlich keiner neuen Abkommen, um Lebensmitt­elStandard­s in Europa zu senken!

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Zeichnung: Ekkehard Müller

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