Mit internationalem Protest gegen einen rassistischen Film begann in Berlin die 68er Revolte.
Der Internationalismus war wegweisend für die Anfänge der 68er Revolte.
Der Kinovorhang war heruntergerissen, die Leinwand mit Farbe bespritzt, ganze Sesselreihen waren aus der Bodenverankerung gelöst und etwa 60 der roten Polstersitzbezüge aufgeschlitzt. Das Westberliner AstorKino am Kurfürstendamm glich einem Trümmerhaufen, berichtete der Geschäftsführer am späten Abend des 2. August 1966 seiner Sekretärin. Wenige Stunden zuvor hatte er sich geweigert, den italienischen Film »Africa Addio« des Regisseurs Gualtiero Jacopetti abzusetzen, der von Rezensenten als rassenhetzerisch beurteilt und vom Publikum mit lautstarken Missfallensbekundungen quittiert wurde.
50 Jahre sind vergangen, seit sich junge Menschen gegen Rassismus auf der Leinwand wehrten – organisiert, militant und deshalb auch erfolgreich. Das hatte Westberlin seit Ende des Faschismus so noch nicht erlebt. Die Presse überschlug sich, die Springer-Blätter sprachen auf den Titelseiten von »Radaubrüdern« und »Krawall am Ku’damm«, überall jedoch konnte man – mal deutlicher, mal versteckter – Sympathie mit dem ungewohnten Protest herauslesen.
Die Zeitungsausschnitte über die Proteste gegen »Africa Addio« sind die ersten des privaten Pressespiegels von Fritz Teufel, den er damals zu erstellen beginnt. Teufel, später Mitbegründer der Kommune I, war an dem Augustabend auch im AstorFilmtheater. Er gehörte zu den Zuschauerinnen und Zuschauern, die mit Zwischenrufen, Pfeifen und rhythmischen Sprechchören die Absetzung des Films forderten, die »Mörder!« riefen, als der ehemalige kongolesische Diktator Moïse Tschombé auf der Leinwand erschien, und die schließlich nach vorne stürmten, als in einer Filmszene ein zwölfjähriger kongolesischer Junge an eine Wand geführt und dort von Tschombés weißen Söldnern erschossen wird. Laut italienischen Presseberichten war während dieser Filmaufnahmen der Bitte Jacopettis entsprochen worden, den Ort der Erschießung nach geeigneten Lichtverhältnissen auswählen zu dürfen.
Vorne, zwischen Fritz Teufel und einem weiteren Studenten, stand der Nigerianer Adekunle Ajala. Die drei erklärten den Zuschauern die Gründe ihres Protests und forderten sie zur Diskussion auf. Ajala hielt – in der Bühnenmitte stehend – mit seinen Händen den linken und rechten Vorhang und verdeckte damit Teile der Leinwand. Die herbeigerufene Polizei sah in ihm den »aktivsten Demonstranten«.
Der 28-jährige Politologiestudent Adekunle Ajala war Vorsitzender des Afrikanischen Studentenbundes, der zu den Initiatoren der Proteste gehörte und mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und den Falken zur Berliner Erstaufführung des Films mobilisiert hatte. Schon bei der Demonstration gegen Tschombés Besuch Ende 1964 in Berlin waren es die afrikanischen Studenten, die Polizeiketten überrannt und ihre eher zurückhaltenden deutschen Genossinnen und Genossen mitgerissen hatten.
Die überwiegend männlichen Studenten aus Afrika, Asien und Lateinamerika organisierten sich im SDS oder in eigenen Studentenverbänden. In Westberlin nahmen sie an studentischen Arbeitskreisen teil, be- richteten aus eigenen Erfahrungen über die Verhältnisse und Kämpfe in ihren Ländern.
Die Zusammenarbeit und die Proteste sind also keineswegs aus dem Nichts entstanden, ebenso wenig wie die sogenannte 68er Bewegung von heute auf morgen aufgetaucht ist. Zwar war der 2. Juni 1967 – die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Westberliner Polizeibeamten – für viele das Initialereignis und der Beginn ihrer persönlichen Politisierung und Radikalisierung, aber Proteste und zivilen Ungehorsam gab es schon zuvor. Anregungen dazu kamen aus den USA, wo die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung seit einigen Jahren Sit-ins gegen Rassendiskriminierung veranstaltete und insbesondere Studenten ab 1965 Teach-ins und Protestmärsche gegen den Krieg in Vietnam organisierten.
Beim ersten Sit-in im Juni 1966 an der Freien Universität (FU) Berlin setzten sich die Teilnehmer für Demokratie und Mitbestimmung an der Hochschule ein, zugleich wurden auch Forderungen erhoben, über die Universität hinaus zu denken. Weitere Proteste zielten gegen die atomare Aufrüstung und den US-amerikanischen Krieg in Vietnam. Der SDS hatte 1965 ein Vietnam-Komitee gegründet und es gab erste kleinere De- monstrationen gegen den Krieg in dem südostasiatischen Land. Im Februar 1966 zog eine Demo mit 2000 Teilnehmern durch die Westberliner Innenstadt und im Anschluss flogen Eier ans Amerikahaus, was Presse und Zeitzeugen als Tabubruch charakterisierten.
Die Revolte der Studenten, Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter und Ar- beiter hatte begonnen. Dass junge Westberliner zu solchen Protestformen wie im Astor-Kino griffen, war für viele Bürger unvorstellbar. So spekulierten sie, die Proteste seien kommunistisch unterwandert, gar in der DDR vorbereitet worden. Aber die FU-Studenten auf den zeitgenössischen Fotos und die polizeilich festgestellten Personalien offenbaren diese Erzählungen als Legenden.
Für das Verständnis der teils militanten Proteste und des Widerstands ab Mitte der 1960er Jahre sind die Hoffnungen und Erwartungen wichtig, die mit der Entkolonialisierung, den weltweiten Kämpfen um Unabhängigkeit und der Aufbruchstimmung auf allen Kontinenten verbunden waren. Antikoloniale Befreiungsbewegungen und linke Bündnisse kamen in Afrika, Südostasien und Lateinamerika nach Guerillakämpfen oder demokratischen Wahlen an die Macht. So schien eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch in den Metropolen eine realistische Perspektive. Wie wir heute wissen, beruhte dies auf einer falschen Einschätzung und einer Überschätzung der eigenen Stärke. Aber es war möglich, grundlegende gesellschaftliche Veränderung zu denken – und das war und ist politischen Kämpfen immer förderlich.
Der Film »Africa Addio« widersprach den Befreiungsbestrebungen. Die Aufnahmen von Ende 1962 bis Ende 1964 aus mehreren afrikanischen Ländern verherrlichten – im Zusammenspiel mit dem gesprochenen Kommentar und der hinterlegten Musik – den Kolonialismus und die Apartheid in Südafrika. Sie vermittelten, dass die unabhängig gewordenen Länder und ihre Einwohner ohne die europäischen Kolonialherren in Chaos versinken. Eine inhaltsanalytische Untersuchung stellte 1967 fest: »Das Bösartige an diesem Film ist jene Oberflächlichkeit, mit der Symptome rassisch interpretiert werden, d.h. man geht nicht Ursachen und Zusammenhängen nach, sondern man bemüht sich, das Symptom mit den Mitteln der Dokumentation und der Technik des Kontrastes als tiefste Wahrheit darzustellen, deren Quintessenz dann heißt: Sie sind unfähig – denn sie sind schwarz.«
In mehreren europäischen Ländern und bei der deutschen Erstaufführung in Frankfurt am Main hatte es bereits Proteste gegen den Film gegeben. In einem Flugblatt, das in Frankfurt an die Kinobesucher verteilt wurde, schrieb ein Bündnis von Gewerkschaftern, Studenten- und Jugendverbänden: »Der Film ›Africa Addio‹ verzerrt das Bild des Afrikaners zu einer grausamen Fratze. Er will unseren Abscheu erwecken, will uns glauben machen, wir seien die besseren Menschen, Angehörige einer höheren Rasse. Mit der Freigabe dieses Films in Deutschland, der gigantischen Schädelstätte des Rassenhasses, hat die Filmselbstkontrolle jede Existenzberechtigung verloren.«
Davon hatten die afrikanischen und deutschen Studentinnen und Studenten in Westberlin erfahren und konnten kurzfristig über 50 Personen ins Kino mobilisieren. Die meisten von ihnen waren zwischen 18 und 30 Jahre alt, darunter die Studentinnen und späteren Journalistinnen Gabriele Goettle und Sibylle Plogstedt. Sie forderten die Absetzung des Films, hatten aber offensichtlich wenig Hoffnung, allein mit ihren Argumenten zu überzeugen. Deshalb bereiteten sich einige klandestin vor, packten Trillerpfeifen ein, Rudi Dutschke nahm eine Schere mit, um im Fall der Fälle die Polstersitze aufzuschneiden. Sogar auf staatliche Repression und polizeiliche Festnahmen waren sie vorbereitet: Der SDS gab mit der Einladung grundlegende Rechtshilfetipps.
Die Schäden im Kino beliefen sich dann auf etwa 20 000 DM. Als sie nach einem Tag Reparaturzeit beseitigt waren und der Film wieder laufen sollte, rief der SDS zu einer Demonstration vor dem Astor-Kino auf. Die Demonstration wurde verboten, dennoch versammelten sich am Abend etwa 1000 Menschen – für die damalige Zeit und anlässlich der spezifischen Thematik eine beachtliche Menge. Die spontane Mobilisierung erreichte mehr als nur das eigene politische Spektrum.
Stundenlang wurde lebhaft diskutiert, während der Verkehr auf dem Kurfürstendamm zusammenbrach. Die Bemühungen der Polizei, die Demonstranten abzudrängen, blieben vergeblich, die Proteste gingen bis nach Mitternacht. Schließlich zeigten sie den gewünschten Erfolg. Um »Ruhe und Ordnung« wiederherzustellen, sah sich Polizeipräsident Erich Duensing gezwungen, auf den Filmverleih einzuwirken, den Film bis auf Weiteres abzusetzen.
Im Herbst 1966 wurde das frühere NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler. 20 Jahre nach Ende des deutschen Faschismus war ein großer Teil der alten Nazis in der Bundesrepublik noch bzw. wieder in Amt und Funktion. Auf diese Kontinuität – die später zu einem zentralen Thema der 68er werden sollte – hatte ein afrikanischer Student während der Demonstration vor dem Kino mit einem selbst gemalten Pappschild hingewiesen: »Astor-Tradition: 1940: Jud Süß. 1966: Africa Addio«.
»Der Film ›Africa Addio‹ verzerrt das Bild des Afrikaners zu einer grausamen Fratze. Er will unseren Abscheu erwecken.«