Zollfrei als Nichtmitglied
Die Wirtschaft der Türkei ist längst eng mit der Europäischen Union verflochten
Unternehmer stornieren Geschäftsreisen in die Türkei. Das dürfte sich bald wieder ändern. Was bleibt sind »Brexit«-Sorgen in Istanbul und der Joker Russland. »Idiot«, soll der chinesische Staatsmann Deng Xiaoping einmal über Michael Gorbatschow gezürnt haben. Weil der Präsident der UdSSR die Bedeutung von Wirtschaftswachstum und Konsum für das Überleben seines politischen Systems unterschätzt habe.
Diesen Fehler traut man Recep Tayyip Erdogan nicht zu. Der zwölfte Präsident der Republik Türkei gilt in Wirtschaftskreisen als Pragmatiker. Den in seiner Amtszeit als Regierungschef erfolgten wirtschaftlichen Aufschwung – wichtige Reformen hatten allerdings seine Vorgänger eingeleitet – werde er nicht gefährden, heißt es. Zeitweilig hatte die Türkei mit geradewegs chinesischen Wachstumsraten von über neun Prozent geglänzt.
Eine besondere Erfolgsgeschichte sind die Beziehungen mit Großbritannien. Die türkischen Ausfuhren erhöhten sich zwischen 2010 und 2015 um 46 Prozent auf umgerechnet fast zehn Milliarden Euro. Türkische Firmen, darunter Tochtergesellschaften etwa von Daimler, liefern Fahrzeuge und Autoteile, Textilien und elektrotechnische Produkte.
2016 hätte, nach den Zahlen für das erste Quartal, ein neues Rekordjahr werden können. Doch dann bremsten die »Brexit«-Entscheidung in London und der Putschversuch in Istanbul viele Pläne aus. Zudem schwanken die Wechselkurse bedenklich. »Die Entwicklung des Pfunds im Verhältnis zur Lira dürfte den britisch-türkischen Handel in Zukunft maßgeblich beeinflussen«, erwarten die Außenwirtschaftsexperten des Bundeswirtschaftsministeriums.
Sollte sich der »Brexit« dauerhaft negativ auf das Pfund auswirken, könnten davon britische Exporteure profitieren. Türkische Unternehmen würden dagegen verlieren, da sich ihre Lieferungen verteuerten.
Kontern könnte Erdogan mit dem von ihm angedrohten Referendum über die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Sollte die Mehrheit gegen eine Mitgliedschaft stimmen, dürfte der Kurs der Lira verfallen. Türkische Exporte würden dann im Ausland billiger.
Auch in der EU sind die seit mittlerweile elf Jahren laufenden Beitrittsgespräche umstritten. So will die EU in den nächsten Jahren fast fünf Milliarden Euro als »Heranführungshilfen« in die Türkei überweisen.
Allerdings erwartet kaum ein Analyst, dass die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit einem Donner-
Die EU ist mit Abstand der größte Absatzmarkt für türkische Exporteure: Rund 45 Prozent der Ausfuhren gehen in die EU-Länder.
wetter endet, sollten sich die Beziehungen weiter verschlechtern. Ein Assoziierungsabkommen sorgt seit 1996 dafür, dass die Türkei zur Europäischen Zollunion gehört: Fast alle Waren können zollfrei in die EU importiert werden. Und in entgegengesetzter Richtung.
Die EU ist mit Abstand der größte Absatzmarkt für türkische Exporteure: Rund 45 Prozent der Ausfuhren gehen in die EU-Länder. Umgekehrt fließen weniger als fünf Prozent der EU-Exporte in die Türkei. Lediglich für Griechenland und Bulgarien ist der Nachbar einer der wichtigsten Handelspartner.
Noch schwergewichtiger als das Vereinigte Königreich ist im Übrigen Deutschland, das außerdem der bedeutendste ausländische Investor in der Türkei ist. Rund ein Zehntel von rund 170 Milliarden Euro entfallen auf deutsches Kapital. Alle Top-FünfInvestoren kommen aus der EU.
Erst dann folgen die USA – und Russland, mit dem Erdogan nach seinem Besuch bei Präsident Wladimir Putin am Dienstag wieder besser ins Geschäft kommen will. Seit dem Abschuss eines Kampfjets im November blieben die russischen Touristen fort. Jedoch sind an den Stränden Urlauber aus Westeuropa schon lange in der Überzahl. Allein aus Deutschland reisten 2015 mehr als fünf Millionen an. Putschversuch und die angespannte innenpolitische Lage in der Türkei sorgen dagegen in diesem Jahr für einen deutlichen Rückgang der Buchungszahlen.
Schon vor dem Putschversuch hatte sich das Wirtschaftswachstum abgeschwächt. Frühere Boombranchen wie die Werften schwächeln. Der Leitzins ist mit 7,5 Prozent weiterhin hoch und bremst dadurch die Kredittätigkeit. Auch die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen mit Kurden und die dubiose Rolle Ankaras im Syrien-Konflikt schrecken ausund inländische Unternehmer ab.
Die Deutsch-Türkische Industrieund Handelskammer in Istanbul bleibt dagegen »optimistisch«. Aber sie hält wie die Bundesregierung die längerfristigen Folgen für unkalkulierbar. Über Ungewissheit klagte kürzlich auch Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser auf der Bilanzpressekonferenz seines Konzerns. An den Plänen zum Bau einer Straßenbahn-Fabrik in Gebze hält Kaeser dennoch fest. Es wäre die erste Produktionsstätte von Siemens in der Türkei.
Auf absehbare Zeit bleibt die Türkei für die EU-Wirtschaft wichtig. Dafür sorgen schon die Millionen türkischer Arbeiter in Deutschland, Skandinavien und Großbritannien sowie hunderttausende Gewerbebetriebe. Auch als zahlungskräftige Konsumentengruppe mit angeblich der höchsten Mercedes-Quote gehören Türken und Türkischstämmige zur EU.