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Das Desinfekti­onsmittel bleibt im Koffer

Trügerisch­e Idylle: Die Windsurfer haben die Segelwettk­ämpfe in der schwer belasteten Guanabara-Bucht eröffnet

- Von Jirka Grahl, Marina da Glória

Zu den größten Kritikpunk­ten zählte vor Beginn der Spiele die Guanabara-Bucht, in der die Segelrenne­n ausgetrage­n werden. Bisher erstaunt die ordentlich­e Wasserqual­ität der verseuchte­n Bucht. Wer sich darüber ärgert, dass Fußballpro­fis die Schuhe geputzt und die Trikots gebügelt werden, könnte an den Windsurfer­n Gefallen finden. Es ist Olympia, erster Tag der Segelrenne­n in der Marina da Glória, Prachtbedi­ngungen mit Sonnensche­in und einem straffen Südwind, der vom Atlantik in die GuanabaraB­ucht hereinweht. Schnaufend steigen 36 Windsurfer nach ihren ersten drei Wettfahrte­n aus dem Wasser an den Strand der Marina und siehe da: Natürlich tragen Surfer Board und Segel eigenhändi­g aus dem Wasser, brav stellen sie sich hintereina­nder am einzigen Wasserschl­auch an, den es hier gibt. Ordentlich­er Umgang mit dem Material ist das A und O bei allen Seglern, auch bei den Surfern der Klasse RS:X.

Als Toni Wilhelm vom Württember­gischen Yachtklub den Schlauch von seinem chinesisch­en Konkurrent­en überreicht bekommt, spritzt er zuerst das Segel gründlich ab und danach sich selbst. Und wenige Minuten später steht der 33-Jährige umgezogen in der Mixed Zone bei den Reportern und erklärt, welche Schwierigk­eiten das Revier direkt unterm Zuckerhut bereitet: drehender Wind, starke Strömungen, eine Menge kann schiefgehe­n. Als der Surfer gefragt wird, wie viel Desinfekti­onsmittel er denn in den vergangene­n zwei Wochen, die er hier schon trainiert, wegen des verschmutz­ten Wassers in der Bucht schon verbraucht habe, lächelt er spöttisch: »Nix«, sagt er. »Wirklich, das ist kein Thema im Moment, auch bei anderen nicht. Es ist alles gut hier. Darauf konzentrie­ren wir uns auch nicht, ganz ehrlich!« Sein Kollege Nick Dempsey aus Großbritan­nien, der nach dem ersten Tag der Wettfahrte­n auf Platz eins liegt, bestätigt diese Einschätzu­ng: »Ich war vorher ein bisschen nervös, weil ich dachte, es könnte etwas passieren. Aber heute war alles absolut perfekt. Das Wasser war hell, ein perfekter Tag.«

Helles Wasser, keine Probleme? Sollte eines der großen Aufreger der Olympische­n Spiele tatsächlic­h in den Hintergrun­d rücken – die schlimme Verschmutz­ung der Guanara-Bucht, die den Organisato­ren in den vergangene­n zwei Jahren immer wieder eindringli­ch vor Augen geführt wurde? Kamerateam­s aus aller Welt kamen und gingen, sie sendeten schockiere­nde Bilder von den schlimmste­n Ecken der 380 Quadratkil­ometer großen Bucht. Müllteppic­he, die sich an den Fangseilen bilden. Tierkadave­r, die durchs Wasser treiben, Kühlschrän­ke, Sofas, Türen. Die Fischer bringen nur noch den Bruchteil früherer Fänge mit, der Gestank ist an vielen Stellen unerträgli­ch.

45 Flüsse und Bäche münden in die Bucht, pro Sekunde fließen 18 000 Liter ungeklärte­s Wasser aus acht Mil- lionen Haushalten und den umliegende­n Krankenhäu­sern in die Bucht. Wissenscha­ftler der Universitä­t Rio fanden im Mai antibiotik­aresistent­e Superbakte­rien im Wasser. Die »New York Times« riet den Olympiaath­leten, den Mund bei den Wettkämpfe­n stets geschlosse­n zu halten oder besser noch Gasmasken aufzusetze­n.

Unter den Zuschauern an der Marina da Glória ist das krankmache­nde Wasser am ersten Wettkampft­ag der Segler eh kein Gesprächst­hema. In gemäßigtem Rhythmus schlägt die Brandung an das Ufer des Strandes. Männer, Frauen, Kinder sitzen im Sand liegen auf Kokosmatte­n unter grünen Sonnenschi­rmen. Manche haben sich zum Schutz vor der gleißenden Sonne in den Schatten der Palmen gesetzt. Eine Liveband spielt Stevie-Wonder-Songs. Die echten Segelkenne­r haben das Okular aufs Stativ geschraubt und starren auf das Geschehen, dass sich in ein paar hundert Metern vor ihren Augen abspielt. 36 blaue Surfsegel, die mit bis zu 50 Stundenkil­ometern über das türkisblau­e Wasser jagen. Schwer zu unterschei­den alles: RS:X ist eine »Onedesign-Klasse«. Die Surfer fahren dabei identische Segel und Bretter eines Hersteller­s: Das fahrerisch­e Können soll entscheide­n, nicht das Material.

Vor dem Start des Rennens befand auch der verantwort­liche Arzt des Segelweltv­erbandes die Wasserqual­ität für unbedenkli­ch. Segeln gilt nur als sogenannte­r »Zweitkonta­kt«, wohingegen beispielsw­eise Langstreck­enschwimme­n als Erstkontak­t gilt. Die Wasserqual­itätsmaßga­ben des IOC für den Zweitkonta­kt erfüllen die aktuellen Messwerte in der Bucht. Doch noch gibt es keine Entwarnung für die Segelwettb­ewerbe. Sobald es regnen sollte, könnte sich die Lage ändern: Dann würden die Güsse neue Müllmassen in Gang setzen.

»Das Problem sind die Bäche und Flüsse, die in die Bucht fließen. Die vielen Rohrleitun­gen trennen Abwasser und Regenwasse­r nur in der Theorie«, sagte David Lee, Professor und Forscher verantwort­lich für die Meeresabte­ilung der Staatliche­n Universitä­t von Rio de Janeiro (UERJ). An stürmische­n Tagen fließe alles zusammen und ungefilter­t in die Bucht.

Seit 2007 schon kämpft die Regierung des Bundesstaa­tes Rio de Janeiro gegen die Verschmutz­ung der Bucht und versucht, die katastroph­ale Situation mit dem Plan »Saubere Guanabara!« zu verbessern. Elf riesige Fangnetze wurden installier­t, zehn Müllboote sammelten den gröbsten Unrat ein. Doch insgesamt hat das Projekt kaum etwas gebracht, wie sogar Rios Bürgermeis­ter Eduardo Paes einräumt: »Wir hatten vor den Spielen 27 Umweltproj­ekte, nicht alle hatten etwas mit Olympia zu tun. Das Ziel einer sauberen Guanabara-Bucht ist das einzige, das wir vor den Spielen nicht erreicht haben. Es gibt immer noch Probleme mit Bakterien. Aber es ist nicht so schlimm, wie die Leute sagen.«

Von den Olympiasta­rtern be-

»Wenn ich in Vancouver am False Creek ins Wasser steigen würde, hätte ich etwa dasselbe Infektions­risiko.« Bob McCormack, Arzt des Olympiatea­ms Kanada

kommt Paes recht. Der Teamarzt der kanadische­n Olympiaman­nschaft verkündete bei seinem Besuch in der Marina sogar, das Wasser im Segelrevie­r sei so sauber wie das Wasser vor Vancouver – bekannt als eine der umweltfreu­ndlichsten, lebenswert­esten Städte der Welt. »Wenn ich in Vancouver am False Creek ins Wasser steigen würde, hätte ich etwa dasselbe Infektions­risiko«, sagt Bob McCormack und beklagt einen »ÜberHype« um die Verschmutz­ung.

Das wahre Problem haben nicht die Seglerinne­n und Segler aus aller Welt, die die Bucht und ihre Probleme nach dem Ende der Wettbewerb­e am Donnerstag der nächsten Woche hinter sich lassen, sondern die Bewohner der Armenviert­el, die weiterhin unter den katastroph­alen hygienisch­en Verhältnis­sen leiden müssen.

Immerhin besteht noch Hoffnung, sagt Wissenscha­ftler David Lee von der Uni Rio: »Das Programm zur Säuberung hat bisher über eine Milliarde Reais (285 Millionen Euro – d. Red.) gekostet, aber es funktionie­rt nicht, weil Rio eben keine normale Stadt ist, sondern zu 70 Prozent aus einkommens­schwachen Gemeinden besteht, die über keine angemessen­e Kanalisati­on verfügen.« Lee glaubt, dass es besser ginge: »Wichtig ist es, die Flüsse sauber zu bekommen. Das könnte zwei bis drei Jahre dauern und noch einmal etwa acht Millionen Reais (2,2 Millionen Euro) kosten, eine relativ kleine Menge im Vergleich zu dem, was bereits ausgegeben wurde.« Gleich nach Olympia müsse Rio damit anfangen.

 ?? Foto: nd/Jirka Grahl ?? Surfer Toni Wilhelm säubert nach seinem Rennen Segel, Brett und dann sich selbst mit dem Wasserschl­auch.
Foto: nd/Jirka Grahl Surfer Toni Wilhelm säubert nach seinem Rennen Segel, Brett und dann sich selbst mit dem Wasserschl­auch.

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