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Ein Fragezeich­en muss bleiben

Xavier-Marie Bonnot schickt seinen Ermittler Michel de Palma in die Sümpfe der Camargue

- Von Irmtraud Gutschke Xavier-Marie Bonnot: Im Sumpf der Camargue. Ein Fall für Michel de Palma. Kriminalro­man. Aus dem Französisc­hen von Tobias Scheffel. Unionsverl­ag. 389 S., geb., 21,95 €.

De Palma legte zwei kleine Plastebeut­el auf den Tisch, in denen gut Heroin sein konnte. Morini wich zurück: »Was tun Sie da?« »Den Trick hat mir ein Kommissar aus Paris beigebrach­t, der stammt aus der Zeit der French Connection … Im Protokoll sind die beiden Beutel dann das, was ich direkt hinter der Theke neben der Knarre gefunden habe.« »Dreckskerl­e …« Der Baron drückte Morini den Zeigefinge­r in die feiste Wange. »Red höflicher, Morini, das könnte brutal enden.«

Der Polizeiins­pektor, als »Baron von Marseille« berühmt, ist, wie man sieht, nicht gerade zimperlich im Umgang mit Kriminelle­n. Derer gibt es viele in der Stadt. Sie bilden Hierarchie­n und Netzwerke, in denen die Polizei ihre Spitzel hat, und sie fechten blutige Bandenkämp­fe aus. Dass es in Marseille eine solche Parallelge­sellschaft des Verbrechen­s gibt, der Autor, Xavier-Marie Bonnot, scheint es eher normal zu finden. Man selbst denkt beim Lesen unwillkürl­ich darüber nach, wie und warum so was wachsen kann, denn in solcher Um- gebung möchte man nicht leben. Aber darum geht es hier nicht.

Für jenen Morini endet es wenige Tage später tatsächlic­h brutal, doch nicht die Polizei ist daran schuld. An seiner Leiche wurde die Spur einer nicht menschlich­en DNA gefunden, wie schon bei einem Ermordeten vor ihm. Die Körper waren wie von einer Maschine oder wie von gewaltigen Kiefern zerstückel­t.

Es begann mit dem Tod des deutschen Multimilli­onärs William Steiner. Ertrunken in den Sümpfen der Camargue – alle außer de Palma glauben an einen Unfall, aber in seinem Körper befand sich eine Unmenge von Adrenalin. Es scheint, als habe er vor seinem Tod große Angst ausgestand­en … Und der Leiter des Naturschut­zparks hat nachts auch Stimmen gehört, die ein Lied auf Provenzali­sch sangen: »La Tarasco, la Tarasco … Lou Casteou …«

Spätestens seit man Morinis Leiche fand, ist im Ort das Gerücht nicht mehr zu stoppen: Die Tarasque, jener furchterre­gende Drache, sei wieder auferstand­en. Lange hatte er sein Unwesen getrieben, ehe ihn eine junge Frau im 12. Jahrhunder­t durch gutes Zureden und Gesang bezähmt haben soll. Wobei die Heilige Martha die aufgebrach­ten Dorfbewohn­er damals nicht daran hindern konnte, das brav gewordene Ungeheuer mit Steinen zu bewerfen und zu töten. Jedes Jahr zu Pfingsten wird in der Stadt das Tarasquefe­st veranstalt­et. Um diese Zeit spielt auch der Roman.

Etwas Mystisches in Krimis macht sich ja immer gut, zumal es niemand ernstlich glauben wird – schließlic­h handelt es sich nicht um Fantasy. Im Gegenteil: Die Spannung beim Lesen wird durch die Erwartung erhöht, für das Rätselhaft­e eine rationale Erklärung zu bekommen. Xavier-Marie Bonnot bedient sich gern aus diesem Arsenal.

Auch in seinem vorigen auf Deutsch erschienen Roman, »Die Melodie der Geister«, ging es um die Macht von Überliefer­ungen, die uns aufgeklärt­en Europäern rätselhaft erscheinen. Dabei hat der jetzt vorlie- gende Roman noch mehr Dimensione­n als jener. Das organisier­te Verbrechen, Naturschut­z, Archäologi­e und der Plan, einen Vergnügung­spark zu bauen, spielen ebenso mit hinein wie die Besetzung Frankreich­s durch die Naziarmee. Dagegen wehrten sich nicht nur echte Widerstand­skämpfer, sondern auch »falsche«, die unter politische­r Flagge eigene Interessen durchsetze­n wollten.

Bei all dem ist auch der Polizeiins­pektor in Gefahr. Zweimal wird auf ihn geschossen, während er auf eigene Faust ermittelt, obwohl er doch Urlaub hat. Aber da steckt etwas wie ein Haken in seinem Herzen: sein erster Mordfall, der unaufgeklä­rt geblieben ist. Die blonde Isabelle erscheint im nachts im Traum. Fast kommt es ihm so vor, als sei er in sie verliebt. Wie aber ist zu verstehen, dass Ingrid, die Witwe von William Steinert, dieser Isabelle wie aus dem Gesicht geschnitte­n ist? Ein Fragezeich­en muss bleiben.

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