»Ich habe gelernt, mit meinen Traumata gut zu leben«
Der deutsch-türkische Schriftsteller Dogan Akhanli über die derzeitige politische Lage in der Türkei
Idam Isteriz« – »Wir wollen die Todesstrafe!« brüllten vor zwei Wochen mehrere Tausend aufgeputschte Türken auf der proErdogan-Demonstration am Kölner Rheinufer. Dogan Akhanli, der schmalgliedrige, zerbrechlich wirkende und doch so ausdrucksstarke deutsch-türkische Schriftsteller lächelt etwas traurig, als ich ihn auf diese Szene anspreche: »Ich habe vor einigen Jahren noch gehofft, dass die demokratischen Kräfte gerade hier in Deutschland stärker sind. Viele von ihnen sind hier geboren.«
Wir sitzen in seiner kleinen KölnEhrenfelder Wohnung, wo er seit 20 Jahren lebt. Besuchen darf er die Türkei nicht mehr. 1991 war er nach einem Leben im Untergrund und Gefangenschaft auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland geflohen, von den traumatischen Erfahrungen schwer gezeichnet. Vier Jahre später beschloss er, nach einer unruhigen Nacht, Schriftsteller zu werden. Er begann mit dem Schreiben – und es gelang prächtig. Zwei seiner fünf auf Türkisch erschienenen Romane wurden von türkischen Schriftstellern zum bedeutendsten Buch des Jahres gewählt. Die aktive Politik ist für ihn hingegen heute in den Hintergrund gerückt. Dogan Akhanli fühlt sich vor allem als Schriftsteller, und als Menschenrechtsaktivist. »Man muss sich entscheiden. Ich habe mich entschieden«, bemerkt er.
2010 hatte der 1957 in Savsat, einem kleinen Dorf im Nordosten der Türkei, geborene Schriftsteller noch einmal sein früheres Heimatland besucht, um seinen todkranken Vater ein letztes Mal zu sehen. Und um noch einmal die Türkei, der Stoff seiner zahlreichen Romane, zu spüren. Noch auf dem Flughafen wurde Akhanli verhaftet und unter mehr als fadenscheinigen Bedingungen des Mordes angeklagt. Auch in der Türkei wussten alle, dass die Anklage dem erfolgreichen Schriftsteller galt, der mit seinem Roman »Die Richter des jüngsten Gerichts« als erster den Völkermord an den Armeniern auf Türkisch literarisch bearbeitet hat. Dies trug dem Menschenrechtler den ewigen Hass der nationalistischen Geschichtsleugner ein. Seitdem galt er mal als Kurde, mal als Jude und mal als Armenier – je nach projektivem In- teresse. Nach einer massiven Unterstützerkampagne aus Deutschland – sogar der damalige Kölner Oberbürgermeister Roters sprach bei seinem Amtskollegen aus Ankara vor – wurde Dogan Akhanli wieder freigelassen. »Ja, Deutschland hat mich damals wirklich gerettet«, meint Dogan Akhanli. Unvergessen das Bild seines Prozesses, 2010: Der schmächtig wirkende, dennoch lächelnde Schriftsteller umringt von drei Dutzend schwer bewaffneten Polizisten. Eine Groteske wie bei Kafka – und zugleich ein Symbol für die Nicht-Wertschätzung des freien Wortes in der Türkei. »Ich saß zwar in einer schäbigen Zelle, aber ich war überhaupt nicht einsam. Ich konnte mit Hilfe der vielen Postkarten und Briefe, die mich erreichten, gedanklich und visuell in fast alle Kontinente der Welt reisen. Doch gleichzeitig musste ich Zeuge der Einsamkeit der kurdischen Gefangenen sein. Dass die Türkei für Kurden ein Kerker sei, ist für mich keine tote Metapher, es ist eine erlebte Realität geworden«, erinnerte er sich 2014 in einer Dankesrede anlässlich einer Preisverleihung in Köln.
Dogan Akhanli kam wieder frei. Dafür wurde wenig später sein türkischer Verleger Ragip Zarakoglu inhaftiert. Vorboten einer antidemokratischen Entwicklung, die nach dem jüngsten, seltsam anmutenden Putsch einen neuen Tiefpunkt erreicht hat. Nach seiner Rückkehr in seine neue Heimatstadt Köln wurde der Prozess 2013 wieder neu aufgelegt. Angesichts der abgründigen Willkür fühlte Akhanli sich an Kafka erinnert: »Die Verantwortlichen in der Türkei glauben, dass das in Ordnung ist. Es war ihnen egal, wie sie mich behandeln«, erinnert er sich im Gespräch. Daraufhin beschloss er, sich nicht mehr an dieser Prozessfarce zu beteiligen. Die Türkei wird er nie wieder betreten dürfen. Aber reisen kann er. Er war danach in Israel und vor einigen Monaten auf einem großen Kulturfestival im Nordirak. Dass sich die Entwicklung in der Türkei heute derart ins Absurd-Despotische verschärfen würde, hatte der unerschütterliche Optimist befürchtet, aber doch zugleich innerlich verleugnet.
In der Türkei ist Dogan Akhanli als Schriftsteller sehr bekannt. In seinen Romanen hat er alle Tabus der türkischen Gesellschaft erschüttert. In dem 2005 erschienenen, in der Türkei stark diskutierten Roman »Madonna'nın Son Hayali« (Der letzte Traum der Madonna) erinnert Akhanli an das Schicksal des jüdischen Flüchtlingsschiffes Struma: Ein Schiff mit 700 jüdischen Flüchtlingen, das 1942 nach einer langen Odyssee im Schwarzen Meer versenkt wurde. Trotz der prekären Situation in der Türkei bereitet der Verlag die dritte Auflage dieses Werkes vor. Und 2010, kurz nach seiner Freilassung, erschien seine Erzählung »Fasil« (Die Folter). Auch optisch ein Kunstwerk erzählt Akhanli hierin über die Folter, die er selbst erleiden musste, aus der Perspektive des Täters wie auch des Opfers. »Ich fürchte« – Akhanli muss lachen –, »dass mir die Rolle des Täters besser gelungen ist als die des Opfers.«
Dogan Akhanli bleibt optimistisch. Und setzt seine die nationalen Grenzen stets überschreitende Erinnerungsarbeit insbesondere an dem Völkermord an den Armeniern fort. Ein Engagement, für welches er mehrfach in der Bundesrepublik ausgezeichnet wurde. 2012 schrieb und inszenierte er gemeinsam mit dem schweizerisch-jüdischen Regisseur Ron Rosenberg und der deutsch-armenischen Schauspielerin Bea Ehlers-Kerbekian das Theaterstück »Annes Schweigen«.
Und kommenden Oktober wird in Berlin und in Köln die Lesung »Urfa. Eine Stadt. Zwei Ärzte. Armenien 1915« aufgeführt, gemeinsam mit der israelisch-deutschen Schriftstellerin Mona Yahia und der in Köln lebenden armenischen Pianistin Nare Karoyan.
Ein leicht bewölkter Sommertag in Köln. Wir blicken auf einen größeren, baumbestandenen Hinterhof. Unweit hiervon liegt die bunte Ehrenfelder Venloer Straße. Hier ist Dogan zu Hause – wie auch in Berlin. »Früher hatte ich wegen meiner Erlebnisse starke Ängste. Das ist vorbei. Heute habe ich absolut keine Angst mehr. Was soll mir passieren? Ich habe gelernt, mit meinen Traumata zu leben. Und ich werde nicht schweigen.« In Köln lebe er in Sicherheit. Sein Exil, und damit auch die Angst, sei vorbei. Er werde auch weiterhin den türkischen Staat kritisieren. Und seinen bedrohte Schriftstellerkollegen müsse er heute empfehlen, nach Europa zu kommen. »Man kann nur in Freiheit schreiben. Freunde schreiben mir, dass sie in der Türkei nicht mehr atmen können.«
Schreiben ist seine Form einer individuellen und gesellschaftlichen Erinnerung. Dogan Akhanli ist seit zwei Jahrzehnten ein Brückenbauer zwischen Kurden, Armeniern, Griechen, Deutschen und Türken. Seine Erinnerungsprojekten hinterlassen wirkliche Spuren. Soeben ist sein zweiter deutschsprachiger Roman erschienen: »Die Tage ohne Vater«.
Den Schriftstellern und Intellektuellen in der Türkei rät Akhanli zur Emigration.