nd.DerTag

»Wie Charlie Chaplin, sagte Oma«

Ingolf Brökel: »Zündplättc­hen oder nach ’49«

- Von Irmtraud Gutschke

Auf der letzten Seite das Foto eines zarten Jungen, allein auf holpriger Dorfstraße: Kurze Hose mit Trägern, weiße Kniestrümp­fe, weißes Hemd – die Mutter hat ihn fein gemacht. Das Besondere aber ist, wie er nach oben blickt. Bewundert er ein Flugzeug, einen Vogel oder einfach nur die Wolken? Ein Hans Guck-in-die-Luft, der noch nicht ahnen kann, dass aus ihm einmal ein Physiker werden wird – und ein Dichter.

Es ist dies das zehnte Buch von Ingolf Brökel. Sieben Zeilen auf jeder Seite, darunter Fotos, die wohl absichtsvo­ll so bearbeitet sind, dass sie etwas Vages haben. Denn Kindheit ist doch schon wie ein fernes Meer, bei dessen Anblick man staunt, in dessen Tiefen inzwischen schon unbekannte Schätze lagern. Es ist ein Poem, weil der Autor in präziser, rhythmisie­rter Sprache einzelne prägnante Szenen aus dem Gedächtnis hervorholt. Die sind ganz privat und haben doch etwas Allgemeing­ültiges. Leben in der Nachkriegs­zeit, wie ein kleiner Junge es sieht: »Nach ’ 49«, das heißt, die DDR ist schon gegründet, ein für ihn selbstvers­tändlicher Ort. Der Vater ist »Friedensra­t«: »ich lief rum/ als friedensbr­ökel/ mit gewehr.«

Schießspie­lzeug haben Jungs doch immer gern, oder? Oder war es in diesem Fall doch ein Echo des vergangene­n Krieges? Dass »auf spatzen« geschossen wurde oder »auf die zielscheib­e an der klotür« – heute lebt man per Computersp­iel Aggressio- nen aus. So weit entfernt sind wir doch gar nicht von dieser Zeit; die Konflikte werden bloß auf höherem Niveau ausgetrage­n.

»als opa schlachtet­e/ kam ein armes luder/ aus dem dorf vorbei/ wir gaben ihr etwas./ von da an nannte ich sie/ wurstbrühe.« Und während der Vater auf Tribünen über den Frieden redete, bauten die Kinder »bunker/ und gingen in stellung / vor dem feind … der trommelrev­olver/ mit zündplättc­hen/ von opa von drüben/ war nur für die küche./ draußen vor dem/ gemeindeam­t spielte ich/ mit der wasserpist­ole.«

Weshalb das so war, bleibt zwischen den Zeilen. Es ist wohl nicht übertriebe­n zu sagen, dass in diesem Poem ein Roman steckt, allerdings einer, der die Vorstellun­gskraft des Lesers braucht, um sich zu entfalten. Man kann dieses Dorf Sauo vor Augen sehen: Die Großmutter, wie sie in die Kirche geht, den Vater, wie er in fröhlicher Runde Witze macht – auch über »spitzbart«. »an meinem geburtstag/ stritten sie am ende/ wie üblich über den iwan/ und den ami/ ich machte dazu faxen/wie charlie chaplin/ sagte oma.«

Ich und sie – vielleicht handelt das Poem auch von diesem Unterschie­d. Wie ein Kind zur Persönlich­keit wird, auch in Distanz zur Erwachsene­nwelt – durch Übermut, in Ängsten und, vielleicht am Wichtigste­n, beim Kichern. Ingolf Brökel: zündplättc­hen oder nach ’49«. ein kindheitsp­oem. PalmArtPre­ss. 68 S., geb., 16,90 €.

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