Revolte in Manaus
Nach blutigen Auseinandersetzungen in einem brasilianischen Gefängnis in Manaus werden die Häftlinge verlegt
Gefängnisaufstand in Brasilien fordert 56 Opfer.
In Brasiliens meist hoffnungslos überfüllten Gefängnissen kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Die Revolte in Manaus mit 56 Toten gilt als eine der schlimmsten der vergangenen Jahre. Es gibt keinen Zweifel: Brasilien ist eines der gewalttätigsten Länder der Welt. An die 60 000 Menschen werden dort Jahr für Jahr ermordet, 2015 wurden pro Tag 160 Menschen getötet, alle neun Minuten ereignete sich ein Mord. Die nationale Todesrate liegt damit bei 28,6 pro 100 000 Einwohner. Dies geht aus dem jüngsten Jahresbericht 2015 des Brasilianischen Forums für Öffentliche Sicherheit (Fórum Brasileiro de Segurança Pública) hervor.
Den Symptomen der Gewalt setzt Brasiliens Politik durchaus etwas entgegen: Polizeigewalt und Gefängnisse. Alle 2,5 Stunden stirbt ein Mensch durch Polizeigewalt und Ende 2014 gab es einem Bericht des Justizministeriums zufolge 622 000 Gefangene. Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahren die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten. Überfüllung, Gewalt und Folter seien die Regel, heißt es etwa im Jahresbericht von Amnesty International. Im Bundesstaat Amazonas sind die Zustände laut einem Bericht des Justizministeriums besonders schlimm: Während im Landesdurchschnitt 1,67 Häftlinge auf einen Haftplatz kommen, sind es dort 2,59 Häftlinge.
Ein Symptom der Gewalt sind regelmäßige Gefängnisaufstände: Im berüchtigten Bundesstaat Amazonas kam es nun zum Jahresauftakt 2017 zu einer der weltweit größten Gefängnisrevolten der vergangenen Jahre. Dabei wurden mindestens 56 Menschen getötet. Viele Opfer seien bei den 17-stündigen Kämpfen zwischen rivalisierenden Banden geköpft worden, teilten Vertreter der Sicherheitsbehörden des nordbrasilianischen Bundesstaates Amazonas mit. Zwölf Aufseher des Anísio-Jobím-Gefängnisses am Rande von Manaus seien zwischenzeitlich als Geiseln genommen worden. Mehr als 140 Häftlinge sind auf der Flucht.
Es handele sich um »das größte Blutbad, das in einem Gefängnis im Amazonas begangen wurde«, sagte der Sicherheitschef des gleichnamigen Bundesstaats, Sergio Fontes. »Viele wurden geköpft und alle haben viel Gewalt erlitten.« Während der Verhandlungen über die Freilassung der zwölf gefangen genommenen Wärter hätten die aufständischen Häftlinge »praktisch nichts gefordert«, sagte Fontes dem Radiosender Tiradentes. Sie hätten nur verlangt, dass die Polizei nicht mit exzessiver Gewalt die besetzten Räume stürmt. »Wir glauben, dass sie schon getan hatten, was sie wollten: Mitglieder der rivalisierenden Organisation töten«, sagte Fontes.
Laut Fontes hatten sich die zwei Drogenbanden Primeiro Comando da Capital (PCC) aus São Paulo und der lokalen Bande Familia del Norte (FDN) von Sonntagnachmittag bis Montagmorgen (Ortszeit) in dem Gefängnis bekämpft. Nach 17 Stunden hätten die Behörden die Lage wieder vollständig im Griff gehabt. 16 Fluchttunnel seien entdeckt worden. Fontes erklärte vollmundig, dass die Situation jeden Moment unter Kontrolle gewesen sei, weil die Toten binnen der ersten 15 Minuten »produziert« worden seien und nicht während der gesamten Revolte.
Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP sah blutüberströmte und verbrannte Leichen, die in einem betonierten Hof des Gefängnisses übereinandergestapelt lagen. Schwer bewaffnete Polizisten suchten nach entflohenen Häftlingen.
112 Insassen des Anísio-JobímGefängnisses, das seit 2014 privat betrieben wird, hatten das Chaos nach Angaben der Behörden zur Flucht genutzt. Kurz zuvor waren bereits 72 weitere Straftäter aus einer benachbarten Haftanstalt ausgebrochen. Nur insgesamt 40 Entflohene konnten nach Behördenangaben zunächst gefasst werden. Sergio Fontes, Sicherheitschef
Als Reaktion auf die Gefängnisrevolte sind Berichten zufolge knapp 130 Häftlinge mit Verbindungen zu einer der beteiligten Banden in eine andere Anstalt verlegt worden.
Es ist kein Geheimnis, dass brasilianische Gefängnisse häufig faktisch von Drogenbanden kontrolliert werden und die Kämpfe von außerhalb auch hinter Gittern fortgeführt werden. Erst im Oktober waren bei Auseinandersetzungen zwischen dem PCC aus São Paulo und dem Comando Vermelho, dem roten Kommando aus Rio, in drei brasilianischen Gefängnissen insgesamt 33 Menschen getötet worden.
Das PCC, das erste Kommando der Hauptstadt, entstand als Reaktion auf ein Blutbad, das die Militärpolizei São Paulo im Oktober 1992 im Gefängnis Carandiru in São Paulo anrichtete. Dabei wurden von der Polizei 111 Menschen im wahrsten Sinne des Wortes niedergemetzelt. Das PCC hielt sein erstes Grundsatzpapier in der Sprache einer Menschenrechtsbewegung und schwang sich dabei zum Beschützer der Favela-Bevölkerung und der Gefängnisinsassen auf. Beide fürchten die staatlichen Sicherheitskräfte mindestens genauso wie das PCC, das sich seit seinen Anfängen laut Analysten zum mächtigsten Drogenkartell in ganz Südamerika entwickelt hat. Das PCC hat auf seiner Payroll Anwälte, Gefängnisbeamte, Polizisten, Politiker und es hält den Löwenanteil beim lukrativen Handel mit Drogen und Waffen. Auch die Schmuggelrouten zwischen Brasilien, Bolivien und Paraguay stehen unter seiner Kontrolle.
Fontes begründete das verzögerte Eingreifen der Behörden explizit mit Carandiru 1992: »Was wäre die Option des Staates gewesen? Ein zwei- tes Carandiru zu veranstalten und jeden zu töten? Nein.«
Das staatliche Agieren im aktuellen Fall wird sich bestenfalls erst anhand von eingehenden Analysen beurteilen lassen. Dass der brasilianische Staat dabei versagt, den Ursachen von Gewalt in und außerhalb von Gefängnissen mit wirksamen Mitteln zu begegnen, ist hingegen offensichtlich. Es fehlt sowohl an Investitionen in das Gefängnissystem als auch an Investitionen in soziale Infrastruktur wie öffentliche Bildung und Gesundheit außerhalb. In den Gefängnissen fehlt es an sozialpädagogischen Programmen, die die Tür zu einer Rehabilitierung öffnen könnten. Außerhalb wurden von allen Regierungen seit Jahren Investitionen in die öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Transport vernachlässigt. Solange den vielen jungen, sozial benachteiligten Menschen, deren Eltern keine finanziellen Mittel haben, vom Staat keine Perspektiven über Bildung eröffnet werden, ist der Weg in die Kriminalität vorgezeichnet. Das Problem der Kriminalität kann nur durch die Bekämpfung der extremen sozialen Ungleichheit in Brasilien gelöst werden.
»Was wäre die Option des Staates gewesen? Ein zweites Carandiru zu veranstalten und jeden zu töten? Nein.«