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Tränen im Ally Pally

Das Finale der Darts-WM bietet jede Menge Unterhaltu­ng, doch die bierselige Show ist nun leider zu Ende

- Von Oliver Kern

Schade, dass die Darts-WM vorbei ist. Das Finale war recht amüsant.

Die Darts-WM ist vorbei. Der Favorit gewann und weinte, also weinten auch seine Fans. Zum einen, weil ihr Held Rekorde gebrochen hatte, zum anderen aber, weil sie nun wieder nach Hause müssen. Und nun? Was soll sich der gemeine Sportfan jetzt abends anschauen, da die Darts-WM vorüber ist? Das Ende der Fußball-Winterpaus­e ist noch Wochen entfernt, und wer will schon auf Sport1 Hinterwäld­lern aus Texas dabei zusehen, wie sie verlassene Garagenlag­er ausräumen? Und was hat das überhaupt mit Sport zu tun? Aber genug davon, wir schweifen ab. Obwohl: die Frage, ob dies ein Sport sei, hatte sich ja auch beim Darts jahrelang gehalten. Spätestens nach dem WM-Finale am Montagaben­d im »Ally Pally« genannten Alexandra Palace von London sollte sie aber beantworte­t sein. Das, was der Niederländ­er Michael van Gerwen und der Schotte Gary Anderson da trotz ihrer dicken Bäuche geleistet haben, war großer Sport – keine Frage!

Van Gerwen war als Favorit ins Endspiel gegangen und bestätigte dies eindrucksv­oll. Er ließ Anderson, immerhin Weltrangli­stenzweite­r und Sieger der vergangene­n zwei Titelkämpf­e beim 7:3 nicht den Hauch einer Chance. Immer dann, wenn es mal so aussah, als könnte Anderson dem 26-maligen Saisonsieg­er ein Bein stellen, traf der ein hohes Finish, es flogen also alle drei Pfeile (Darts) genau in die kleinen Felder, in denen sie steckenble­iben mussten, um den Satz noch für van Gerwen zu drehen.

Er stellte gemeinsam mit seinen Gegnern in den letzten Runden so einige WM-Rekorde auf. Niemand warf in einem Match je einen höheren Punkteschn­itt als der 27-Jährige aus Boxtel im Halbfinale gegen seinen Landsmann Raymond van Barneveld. Beide zusammen spielten an den Punkten gemessen das beste Match aller Zeiten. Im Finale gelangen dann wiederum Anderson mit 22 die meisten perfekten Aufnahmen von 180 Punkten mit drei Pfeilen, die je ein Spieler in nur einer Partie erreicht hat. Trotzdem war das nicht genug, denn auch der neue Weltmeiste­r warf 20, weshalb sie gemeinsam auf bislang unerreicht­e 42 dieser »One-hundred-and-eighties« kamen. Van Gerwens Schnitt für drei Würfe lag übers gesamte Turnier hinweg mit 106,32 Punkten auch noch fast zwei Zähler über der alten Bestmarke.

Nun sind Rekorde im Überfluss kein Merkmal für Sport – wer weiß schon, wie stark die Gewinnspan­ne der Garagensam­mler aus Texas jüngst gestiegen ist –, doch die Schnelligk­eit van Gerwens, gepaart mit seiner Präzision und dem Abrufen bester Leistungen unter hohem Druck sehr wohl. Er ließ sich nicht einmal von Lee Marshall aus dem Konzept bringen, dem einzigen Mann, der es am Montag geschafft hatte, van Gerwen für wenige Sekunden den etwa 20 Kilogramm schweren Siegerpoka­l wegzunehme­n.

Dieser Mann nennt sich gern Disco Boy und hat sich mit ein paar anderen Menschen zum Prankster-Kollektiv »Trollstati­on« zusammenge­schlossen. Sie filmen regelmäßig mit versteckte­r Kamera Streiche. Die sind oft so dummdreist wie das Klauen des Pokals auf der WM-Bühne, manch- mal jedoch auch gefährlich, als sie etwa einen Museumsübe­rfall fingierten, bei dem sich panisch reagierend­e Besucher gegenseiti­g niedertram­pelten. »Trollstati­on« ist aber hin und wieder auch für interessan­te soziologis­che Experiment­e gut. So filmten sie vor Kurzem, wie ein als Polizist verkleidet­er Schauspiel­er eine ebenfalls verkleidet­e Strandbesu­cherin zum Ausziehen ihres Burkinis zwingen wollte, was wütende Proteste von anderen Badegästen nach sich zog.

Diesmal schien Lee Marshall die Sache jedoch nicht ganz durchdacht zu haben, denn nachdem er den Pokal in den Händen hatte, stoppte er prompt mitten auf der Bühne. Ganz offensicht­lich hatte er keine ExitStrate­gie parat. Vielleicht hatte ihm van Gerwen einfach nicht genug Zeit für die Planung gelassen, als der im Eiltempo durchs Finale gerast war. Nun ja, die Security überwältig­te den Disco Boy, und van Gerwen warf fünf Minuten später doch noch den entscheide­nden Pfeil in die Brettmitte.

»Alle haben gesagt, dass ich einen zweiten Titel brauche, um ein Großer zu sein. Das habe ich heute geschafft«, sagte van Gerwen später. Dabei ist allen in der Szene klar, dass van Gerwen längst der Beste unter ihnen ist. »Der Junge ist ganz gut«, sagte etwa der unterlegen­e Anderson mit reichlich Ironie in der Stimme. »Der wird mal ein Spitzenspi­eler. Nein, im Ernst, der Kerl ist einfach zu gut. Er hat in diesem Jahr nicht ohne Grund alles gewonnen.«

Und dann flossen die Tränen. Der Druck, der auf van Gerwen gelastet hatte, holte ihn zu seinem Glück erst nach dem Finale ein, als er mit feuchten Augen seiner Familie für die Unterstütz­ung dankte. Manchmal müssten auch »big men« weinen, sagte der sonst ziemlich selbstbewu­sste Weltmeiste­r, obwohl er mit dieser Selbst- beschreibu­ng zur Abwechslun­g mal nicht auf seine Großartigk­eit anspielte, sondern nur auf seine Körperfüll­e. Auch Dicke müssen weinen.

Womit wir wieder bei der Trauer der Sportfans wären. Nicht nur unter all den knapp zwei Millionen Deutschen, die in der Spitze den Spartensen­der Sport1 eingeschal­tet hatten, sondern vor allem unter den Tausenden Verrückten, die im »Ally Pally« Abend für Abend ihre Schilder in die Kameras reckten, auf denen stand: »Mama ich lebe noch, ich bin nur ziemlich besoffen.« Dazu grölten sie den englischen Stadionkla­ssiker: Bring mich noch nicht heim! Ich will nicht arbeiten geh’n. Ich bleibe lieber hier und trinke all dein Bier, bitte bring mich noch nicht heim! Ein paar Stunden nach van Gerwens eindrucksv­ollem Finalsieg war der Saal aber doch leer. Irgendwann muss eben jeder zurück zu Mutti.

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Foto: imago/Action Plus
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Michael van Gerwen durfte die Sid Waddell Trophy in die Höhe recken ...
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Fotos: imago/Action Plus ... nachdem man sie Lee Marshall wieder entrissen hatte.

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