Nebenan statt mittendrin
Zuerst die guten oder die schlechten Nachrichten? Okay, die guten Nachrichten. Die Europäische Linkspartei (EL) hat sich Mitte Dezember zu ihrem fünften Kongress in Berlin versammelt, um die Weichen in Richtung einer erfolgreicheren Zukunft und sich selbst den gewaltigen gesellschaftlichen Aufgaben zu stellen. Sie hat ein politisches Dokument diskutiert und angenommen, das die inhaltlichen Positionen einer radikalen linken Kraft angesichts der Auseinandersetzung zwischen Neoliberalen und der radikalen Rechten um die gesellschaftliche Hegemonie bestimmt. Und sie hat mit Gregor Gysi einen der profiliertesten und prominentesten Linken in Europa zu ihrem neuen Präsidenten gewählt, der diese Positionen auch in die Öffentlichkeit tragen kann und wird.
Die schlechte Nachricht? Es herrscht Klassenkampf. Und die europäische Linke spielt darin bislang fast keine Rolle.
Wir erleben derzeit einen tiefen historischen Einschnitt. Die liberalen Demokratien, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks so unanfechtbar als die bessere Gesellschaftsform präsentieren konnten, werden von ihren inneren Widersprüchen immer weiter aufgefressen. Ergebnis offen, denn der Klassenkampf von oben fordert fortgesetzt seinen gesellschaftlichen Preis: Sozialstaatsabbau, Abbau demokratischer Mitbestimmung, Austeritätspolitik. Im Westen also nichts Neues.
Doch hat das vergangene Jahr deutlich gemacht, dass neue Antworten von den Verlierern des Klassenkampfes erwartet werden. Radikale Antworten in dem Sinne, dass die Probleme an ihren Wurzeln angegangen werden. In dem Sinne, dass reale Verbesserungen im Alltag erreicht werden und wieder einfache Erzählungen von einem gelingenden Leben in Sicherheit an Glaubwürdigkeit gewinnen. 2016 hat insbesondere auch für die Linke schmerzhaft gezeigt, dass derzeit vor allem die radikale Rechte erfolgreich gegen »die da oben«, gegen das Establishment, gegen die Verbindung von Finanzindustrie und Politik, gegen bürokratische Institutionen und Korruption mobilisieren kann. Und dass die politische Rechte – so absurd es klingen mag – bei aller Unglaubwürdigkeit (siehe die Zusammensetzung des Trumpschen Kabinetts oder das Herumeiern beim Brexit) als politische Alternative zum Klassenkampf von oben wahrgenommen wird.
Und die Linke? Wo ist sie in dieser Auseinandersetzung? In den vergangenen Jahren war es vergleichsweise ruhig geworden um die EL. Dem Anfangselan und der Gründungseuphorie vor zwölf Jahren folgte vor allem seit dem Ausbrechen der Finanzkrise und der anschließenden griechischen Tragödie eine Zeit des Neben-den-gesellschaftlichen-Konfliktlinien-stehen. Nebenan statt mittendrin. Zu unterschiedlich das Bündnis, dem etwa 30 Mitgliedsparteien aus Ost-, Nord-, Süd- und Westeuropa mit verschiedensten politischen Traditionen angehören, als dass es zu kohärenten Antworten auf die Fragen der Verlierer des gesellschaftlichen Umbaus gelangte. Häufig bestanden schon bei der Analyse unterschiedliche Ansichten. Bei den Schlussfolgerungen trennten die Parteien manchmal Welten: Wie hältst du es mit der Sozialdemokratie? Wie können wir die Mehrheitsverhältnisse zu unseren Gunsten ändern? Was denkst du von der EU? Und zahlst du gern in Euro? Fragen, deren Beantwortung zu teilweise schmerzhaften Auseinandersetzungen in der Linken geführt und die sie auf europäischer Ebene weitestgehend paralysiert haben.
Die Partei, ihr neuer Präsident Gysi und seine Equipe stehen vor einer großen Aufgabe: die EL im Inneren zu einen, einen fruchtbaren Erfahrungsaustausch zwischen den verschiedenen Parteien herzustellen und hier insbesondere von den gelungenen Neuorganisationsprozessen im europäischen Süden zu lernen. Die EL nach außen kenntlich werden zu lassen, Inhalte und Profil hör- und sichtbar zu vertreten und mitten in die gesellschaftspolitischen Konflikte zu gehen, um die Leute von der Schlagkraft linker Politik zu überzeugen. Alternativen gleichzeitig zu den neoliberalen als auch den radikalen rechten Kräften deutlich machen. Eine eigenständige politische Kraft mit der EL zu entwickeln, die auf der Basis breit getragener interner Kompromisse gleichzeitig bündnisfähig wird mit anderen progressiven Kräften, die gegen Austerität und gegen Rassismus streiten und für Demokratie und ein soziales Europa, einen funktionierenden Sozialstaat und eine neue Idee der europäischen Einigung jenseits der Brüsseler Bürokratie und Knebelverträge kämpfen.