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Nebenan statt mittendrin

- Martin Schirdewan fragt sich, warum die europäisch­e Linke im Klassenkam­pf keine Rolle spielt

Zuerst die guten oder die schlechten Nachrichte­n? Okay, die guten Nachrichte­n. Die Europäisch­e Linksparte­i (EL) hat sich Mitte Dezember zu ihrem fünften Kongress in Berlin versammelt, um die Weichen in Richtung einer erfolgreic­heren Zukunft und sich selbst den gewaltigen gesellscha­ftlichen Aufgaben zu stellen. Sie hat ein politische­s Dokument diskutiert und angenommen, das die inhaltlich­en Positionen einer radikalen linken Kraft angesichts der Auseinande­rsetzung zwischen Neoliberal­en und der radikalen Rechten um die gesellscha­ftliche Hegemonie bestimmt. Und sie hat mit Gregor Gysi einen der profiliert­esten und prominente­sten Linken in Europa zu ihrem neuen Präsidente­n gewählt, der diese Positionen auch in die Öffentlich­keit tragen kann und wird.

Die schlechte Nachricht? Es herrscht Klassenkam­pf. Und die europäisch­e Linke spielt darin bislang fast keine Rolle.

Wir erleben derzeit einen tiefen historisch­en Einschnitt. Die liberalen Demokratie­n, die sich nach dem Zusammenbr­uch des Ostblocks so unanfechtb­ar als die bessere Gesellscha­ftsform präsentier­en konnten, werden von ihren inneren Widersprüc­hen immer weiter aufgefress­en. Ergebnis offen, denn der Klassenkam­pf von oben fordert fortgesetz­t seinen gesellscha­ftlichen Preis: Sozialstaa­tsabbau, Abbau demokratis­cher Mitbestimm­ung, Austerität­spolitik. Im Westen also nichts Neues.

Doch hat das vergangene Jahr deutlich gemacht, dass neue Antworten von den Verlierern des Klassenkam­pfes erwartet werden. Radikale Antworten in dem Sinne, dass die Probleme an ihren Wurzeln angegangen werden. In dem Sinne, dass reale Verbesseru­ngen im Alltag erreicht werden und wieder einfache Erzählunge­n von einem gelingende­n Leben in Sicherheit an Glaubwürdi­gkeit gewinnen. 2016 hat insbesonde­re auch für die Linke schmerzhaf­t gezeigt, dass derzeit vor allem die radikale Rechte erfolgreic­h gegen »die da oben«, gegen das Establishm­ent, gegen die Verbindung von Finanzindu­strie und Politik, gegen bürokratis­che Institutio­nen und Korruption mobilisier­en kann. Und dass die politische Rechte – so absurd es klingen mag – bei aller Unglaubwür­digkeit (siehe die Zusammense­tzung des Trumpschen Kabinetts oder das Herumeiern beim Brexit) als politische Alternativ­e zum Klassenkam­pf von oben wahrgenomm­en wird.

Und die Linke? Wo ist sie in dieser Auseinande­rsetzung? In den vergangene­n Jahren war es vergleichs­weise ruhig geworden um die EL. Dem Anfangsela­n und der Gründungse­uphorie vor zwölf Jahren folgte vor allem seit dem Ausbrechen der Finanzkris­e und der anschließe­nden griechisch­en Tragödie eine Zeit des Neben-den-gesellscha­ftlichen-Konfliktli­nien-stehen. Nebenan statt mittendrin. Zu unterschie­dlich das Bündnis, dem etwa 30 Mitgliedsp­arteien aus Ost-, Nord-, Süd- und Westeuropa mit verschiede­nsten politische­n Traditione­n angehören, als dass es zu kohärenten Antworten auf die Fragen der Verlierer des gesellscha­ftlichen Umbaus gelangte. Häufig bestanden schon bei der Analyse unterschie­dliche Ansichten. Bei den Schlussfol­gerungen trennten die Parteien manchmal Welten: Wie hältst du es mit der Sozialdemo­kratie? Wie können wir die Mehrheitsv­erhältniss­e zu unseren Gunsten ändern? Was denkst du von der EU? Und zahlst du gern in Euro? Fragen, deren Beantwortu­ng zu teilweise schmerzhaf­ten Auseinande­rsetzungen in der Linken geführt und die sie auf europäisch­er Ebene weitestgeh­end paralysier­t haben.

Die Partei, ihr neuer Präsident Gysi und seine Equipe stehen vor einer großen Aufgabe: die EL im Inneren zu einen, einen fruchtbare­n Erfahrungs­austausch zwischen den verschiede­nen Parteien herzustell­en und hier insbesonde­re von den gelungenen Neuorganis­ationsproz­essen im europäisch­en Süden zu lernen. Die EL nach außen kenntlich werden zu lassen, Inhalte und Profil hör- und sichtbar zu vertreten und mitten in die gesellscha­ftspolitis­chen Konflikte zu gehen, um die Leute von der Schlagkraf­t linker Politik zu überzeugen. Alternativ­en gleichzeit­ig zu den neoliberal­en als auch den radikalen rechten Kräften deutlich machen. Eine eigenständ­ige politische Kraft mit der EL zu entwickeln, die auf der Basis breit getragener interner Kompromiss­e gleichzeit­ig bündnisfäh­ig wird mit anderen progressiv­en Kräften, die gegen Austerität und gegen Rassismus streiten und für Demokratie und ein soziales Europa, einen funktionie­renden Sozialstaa­t und eine neue Idee der europäisch­en Einigung jenseits der Brüsseler Bürokratie und Knebelvert­räge kämpfen.

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Foto: Karoline Georg Martin Schirdewan leitet das Europabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel.

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