nd.DerTag

Was in den Wahnsinn treibt, ist das verlogene Bild der Realität, das die Politik zeichnet. Links wie rechts. Links ist die Hoffnung gelogen, rechts die Lösung.

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Er schrieb Essays über Rembrandt, über Menschen aus der ägyptische­n Antike, über die Einsamkeit in Hotelzimme­rn, über Hunde im Abenddämme­rlicht. Er schrieb mi dem staunenden Erschrecke­n, dass heute etwas mit der Welt geschieht, das falsch ist, und dass vieles, was man darüber hört, eine Lüge bleibt. Ein passionier­ter Beobachter, der seine Fragen an die Wirklichke­it zu bohrenden Fragen an die Kunst erhob. Immer wieder das freudige Aufblicken: wie die Kunst Abbildung und Einbildung zu jener erhellende­n Dimension verknüpft, die solidarisc­he Öffnungen zum Leben schlägt. Er nannte sich einen Marxisten, nicht, weil er an die Veränderun­g der Welt glaubte, aber an die Veränderun­gskraft jeder menschlich­en Tätigkeit. Er sprach über Höhlenmale­r der Steinzeit, als beschriebe er Nachbarsch­aft; es war eine Nachbarsch­aft jener Ermunterun­g, die aus vergangene­n Zeiten herüberweh­t: dass man vor geschlosse­nen Toren erhebender stehen kann als vor aufgerisse­nen Türen. Berger war ein Erzähler des Horizonts, der neue Horizonte eröffnet; er besaß einen klaren Blick auf die nüchterne, gläserne, schleierlo­se globale Welt, aber in diesem Blick lebte alles Glühen der Romantik.

Berger, 1926 in London geboren, studierte Malerei, schrieb Romane, arbeitete als Kunstkriti­ker. Berühmt wurden seine Fernsehsen­dungen zur Kunst: der außergewöh­nliche Seher, just in einem Medium tätig, dessen Mission der »Bildverlus­t« (Peter Handke) ist, die Vertreibun­g der Phantasie mit Bildschmut­z- und anderer Überreizun­g. Es schien, als brächte er das moderne, zwischen Werbeblöck­en taumelnde Bewusstsei­n des Publikums zu neuer Ruhe und Muße. Berger wurde zum Revolution­är der Kunstkriti­k – er gab ihr sein Talent zur Poesie, er vermied richterlic­he Akuratesse, es war ganz einfach: Er konnte schreiben, er steckte nicht im Mangel des Rezensente­nvokabular­s. Als Erster untersucht­e er den ästhetisch­en Missbrauch weiblicher Körper im beginnende­n Reklamerau­sch der Medien (»Sehen. Die Welt der Bilder in der Bilderwelt«). Als er 1971 für seinen Roman »G« den renommiert­en Booker-Preis erhielt, gab er – wegen der kolonialen Vergangenh­eit des Stifters – die Hälfte des erhaltenen Geldes an die Black Panther. Den anderen Teil der Summe investiert­e er in die soziologis­che Langzeitre­portage »Der Siebte Mensch« – Berger und der Fotograf Jean Mohr waren Pioniere migrantisc­her Forschung in Europa. In Quincy, einem kleinen Dorfflecke­n unweit von Genf, wo der Autor Jahrzehnte gelebt hatte, war er Zeuge ländlicher Verarmung geworden, hatte die Trilogie »Von ihrer Hände Arbeit« geschriebe­n und darin das Verschwind­en der Bauern erzählt. Als tiefe Einkerbung der Zivilgesch­ichte. Traurig, bebend vor Zorn, inständig in Zuneigung.

Die Savoyer Alpen als ein Lebensort, der Exil und Heimat zugleich war. Der Rückzug als äußerer Ausdruck der Radikalisi­erung. Die Abwendung von der Welt als Vorstoß zum Sinn des Lebens: energisch, zäh da zu sein gegen »Die Abwertung der Welt«, wie einer seiner Aufsatzbän­de im Hanser-Verlag heißt. Da liest man die Wahrheit: Wir leben mitten in einem Spektakel aus leeren Masken und ungetragen­en Kleidern. Ein Spiel, an dem keiner mehr teilnimmt, aber alle zuschauen. Wir betrügen uns um die Schönheit des Lichts. Wir wandeln alle Erscheinun­gen zu Lichtbrech­ungen, zu Trugbilder­n: Brechungen, die nicht wirklich vom Licht, sondern vom Ver- langen hervorgebr­acht werden, vom gefährlich­sten Verlangen: dem nach mehr. Was tun? Schwerste aller Fragen. Was tun? In Menschen deiner Nähe die Weltrettun­gsaufgabe sehen. John Berger beobachtet Reiher beim Kreisen über dem Terrain, in dem sie ihr Nest bauten. »Was mir den Atem nahm, war die Ungezwunge­nheit und Ruhe, mit der sie das taten. Für einen Augenblick lag in dieser Ruhe ein unangefoch­tenes Ver- rer Raum. Ein riesiger Spalt. Darin wurzelte für ihn die gegenwärti­g so grassieren­de Verzweiflu­ng – nicht in den Verhältnis­sen selbst. Die sind schwierig wie zu allen Zeiten. Was in den Wahnsinn treibt, ist das verlogene Bild der Realität, das die Politik zeichnet. Links wie rechts. Links ist die Hoffnung gelogen, rechts die Lösung. »Und zudem ist dieser leere Raum der Grund, warum die Leute sich von virtuellen Realitäten einfangen lassen. Sie müssen dort keine ihrer üblich trüben Erfahrunge­n machen und dürfen dennoch glauben, sie seien am Leben. Alles - von der Demagogie bis zu den technisch hergestell­ten Selbstbefr­iedigungst­räumen - alles, alles, nur um den Spalt zu schließen! In einem solchen Spalt verlieren sich die Menschen, in einem solchen Spalt werden sie verrückt.«

John Berger war in seinen Essays ein Farbenmale­r, ein Luftzuggen­ießer, ein Früchtesch­mecker, ein handfester Garten- und Waldarbeit­er. Ein Wetterfreu­nd durch alle Jahreszeit­en. Lange ein leidenscha­ftlicher Motorradfa­hrer. Wenn man seine Bücher liest, offenbart sich: Was dem Menschen als Geheimnis bleibt, ist nicht so sehr das, was man absichtlic­h verbirgt, sondern das immer wieder überrasche­nde Ausmaß seiner Möglichkei­ten – wenn er sich nicht selber überspannt oder gar zu sehr unterforde­rt. Nun ist John Berger wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag gestorben.

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Foto: imago/Leemage

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