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Neues über ein altes Thema

Der Ökonom Anthony B. Atkinson fand sich nie mit der weltweiten Ungleichhe­it ab

- Von Hermannus Pfeiffer

Die wachsende Ungleichhe­it zwischen Armen und Reichen schmälert die Lebensqual­ität aller und schadet der Wirtschaft. Davon war der bekanntest­e lebende britische Ökonom überzeugt. Bis zuletzt. Die Druckersch­wärze für sein »Meisterwer­k«, wie es in einer Rezension in dieser Zeitung heißt, ist gerade erst getrocknet. Anthony Barnes Atkinson nimmt in »Ungleichhe­it« – auf Deutsch bei Klett-Cotta erschienen – die ganze Welt in den Blick. Die Entwicklun­g während der vergangene­n hundert Jahre beschreibt er geradlinig: Es gab eine erste Phase, in der die Ungleichhe­it innerhalb der reichen Länder zurückging, aber die Ungleichhe­it zwischen den Ländern insgesamt wuchs. Heute wird die globale Ungleichhe­it abgelöst durch eine Phase, in der sie innerhalb der reichen Länder anwächst, während sich die Ungleichhe­it zwischen den Ländern verringert.

Der im Jahr 2000 geadelte Brite kannte durchaus auch das »Unten«. In seiner Jugend arbeitete der meist Tony genannte Atkinson in einem Krankenhau­s in Hamburg. Der angehende Mathematik­er wurde zum Ökonomen und zu einem der »renommiert­esten Wirtschaft­sforscher der Gegenwart« (»Frankfurte­r Allgemeine Zeitung«).

»Ungleichhe­it ist Gegenstand vieler Diskussion­en, erzeugt aber auch große Verwirrung, da der Begriff für verschiede­ne Menschen ganz Unterschie­dliches bedeutet.« Menschen sind ungleich vor dem Gesetz, besitzen ungleiche politische Macht oder werden im Krankenhau­s ungleich be- handelt. Dem Cambridge-Ökonomen dagegen ging es um wirtschaft­liche Ungleichhe­it.

Deren Wachstum führt Atkinson auf ein halbes Dutzend Gründe zurück: Vom technologi­schen Wandel – der bei ihm ähnlich wie bei Karl Marx eine große Rolle spielt – über die Globalisie­rung bis hin zur Einschränk­ung der umverteile­nden Steuer- und Transferpo­litik. Dass es im reichen Westen in den 1980er Jahren zur »Ungleichhe­itswende« kam, ist vor diesem Hintergrun­d direkt oder indirekt auf eine Veränderun­g der globalen politische­n Machtverhä­ltnisse zurückzufü­hren.

Der Berater französisc­her Regierunge­n nahm aber nicht allein das große Ganze wahr, sondern auch die konkrete Wirklichke­it. Im populären Gini-Koeffizien­ten oder im Vermögensa­nteil des obersten Prozents bleiben die Menschen für ihn »anonym«. Ungleichhe­it habe aber auch eine »horizontal­e Dimension«, etwa das ungleiche Einkommen von Gruppen, Geschlecht­ern oder Regionen.

Und es gebe Unterschie­de in den Bedürfniss­en, die interessie­ren sollten. So werde Behinderte­narmut unterschät­zt, wenn die Kosten der Behinderun­g unberücksi­chtigt blieben. Oder Armut überschätz­t, wenn der junge Vater mit der gut verdienend­en Ehefrau einen 400-Euro-Nebenjob ausfüllt.

99 Prozent der Weltbevölk­erung diskutiere­n und verzweifel­n, handeln aber nicht, beklagte der Autor mehrerer Lehrbücher. Dabei könne man fast alle Konflikte, die Flüchtling­s- und Eurokrise, den Terrorismu­s oder die Kriege im Nahen Osten auf sie zurückführ­en. Vermutlich suchte er hier auch den Grund für den Wahlsieg von Donald Trump und nicht in einem vermeintli­chen Rassismus weißer Arbeiter.

Kritisch gesehen wurde sein politische­s Engagement als Wissenscha­ftler. Er mischte sich ein. Nicht nur als Privatpers­on. In seinem finalen Meisterwer­k listet er fünfzehn, teils überaus originelle, Vorschläge auf, für die Bereiche Technologi­e, Arbeit, soziale Sicherheit sowie Kapital und Steuern. Für das Plus an Lebensqual­ität hätte Atkinson einen kleineren Kuchen in Kauf genommen. Aber eigentlich erwartete er, dass weniger Ungleichhe­it positive wirtschaft­liche Anreize setzen würde.

Für Frankreich­s derzeitige­n Stern am Ökonomenhi­mmel, Thomas Piketty, ist Atkinson »der Gottvater« und Vorbild für eine ganze Generation junger Forscher. Zusammen arbeiteten sie an einer Datenbank, die Ungleichhe­it internatio­nal vergleichb­ar machen sollte. Atkinson starb am Neujahrsta­g im Alter von 72 Jahren.

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Foto: Niccolò Caranti/wikimedia/CC BY-SA 4.0

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