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1. »Die Armen sind gar nicht arm«

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Manche Medien und Forscher behaupten seit einiger Zeit, die Armen seien eigentlich gar nicht arm. »Ein statistisc­her Trick macht es möglich, dass die Armut auf dem Papier zunimmt, obwohl sich die Lebensverh­ältnisse in Wirklichke­it seit Jahren günstig entwickeln«, schreibt zum Beispiel die »Frankfurte­r Allgemeine Zeitung«. Das Wochenblat­t »Die Zeit« spricht von einem »Armutsschw­indel«. Und der Statistikp­rofessor Walter Krämer erklärt, die Armutsquot­e habe »mit Armut nichts zu tun«. Ihr Argument: Ob jemand als »armutsgefä­hrdet« gilt oder nicht, bemisst sich am sogenannte­n mittleren Einkommen. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, der gilt als arm oder armutsgefä­hrdet.

Das bedeutet: Wenn das mittlere Einkommen steigt, steigt auch die Ar- mutsschwel­le. Konkret: Im Jahr 2008 galt ein Single in Deutschlan­d als arm, wenn er weniger als 917 Euro pro Monat zur Verfügung hatte. 2015 lag dieser Wert bei 1033 Euro. Die Kritiker wenden nun erstens ein, dass es zwar mehr Armutsgefä­hrdete geben mag – gleichzeit­ig bedeute dies aber nicht, dass es den Menschen schlechter gehe. Zweitens gehe es den deutschen Armen doch gar nicht so schlecht, schließlic­h muss ein armer Mensch zum Beispiel in Bulgarien mit 325 Euro und weniger auskommen. Gegenargum­ent Die hierzuland­e verwendete Armutsdefi­nition ist internatio­nal üblich und das ist kein Zufall. Schließlic­h ist sie sachgerech­t. Denn ob jemand in einer Gesellscha­ft arm ist oder nicht, misst sich vernünftig­erweise an ei- nem Normaleink­ommen – also an dem Einkommen, das in einer Gesellscha­ft zu einem bestimmten Zeitpunkt üblich ist. Arme in Deutschlan­d mögen viel mehr haben als Bettler und Bettlerinn­en in Kalkutta, die nichts zu essen haben. Arme in Deutschlan­d im Jahr 2014 mögen viel mehr haben als Arme in Deutschlan­d 1890, die zu fünft in einem Zimmer hausten. Aber derartige Vergleiche sind maßlos: Denn auf der ganzen Welt und in der gesamten Menschheit­sgeschicht­e wird man immer Menschen finden, die noch weniger haben oder hatten.

Sinnvoll für die Armutsmess­ung ist nur der Vergleich aktueller Einkommen mit dem, was eine Gesellscha­ft aktuell produziert. Wenn ein Mensch extrem geringe Anteile am produziert­en Reichtum erhält, ist er arm. Arme Menschen sind eingeschrä­nkt bei der Wahl der Wohnung, der Kleidung, der Lebensmitt­el, der Zahnbehand­lung oder des Urlaubszie­ls, sie haben weniger Möglichkei­ten, am gesellscha­ftlichen Leben teilzuhabe­n, sie sind häufiger krank und sterben früher.

Die Armutsquot­e sagt also nicht nur etwas darüber aus, wie viel Geld ein einzelner Menschen zur Verfügung hat. Sondern auch darüber, wie der Reichtum verteilt ist. Sie ist ein Verteilung­smaß, an dem auch abzulesen ist, ob die Ungleichhe­it im Laufe der Jahre größer oder kleiner geworden ist. In Deutschlan­d ist die Armutsquot­e seit Beginn der Messung durch das Statistisc­he Bundesamt im Jahr 2005 größer geworden. Das ist interessan­t, weil im gleichen Zeitraum die Zahl der registrier­ten Ar- beitslosen um zwei Millionen gesunken ist. Die Entwicklun­g widerspric­ht also der These: »Sozial ist, was Arbeit schafft.«

Und was ist aus Sicht der Kritiker dann Armut? Die FAZ bleibt vage und spricht von »wirklich Armen«. Professor Krämer von der Technische­n Universitä­t Dortmund nennt als Beispiel die Definition der Weltbank, die Menschen als arm einstuft, die von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag leben müssen. Würde man dies auf Deutschlan­d übertragen, wäre zum Beispiel eine Bettlerin, die hierzuland­e ohne Papiere lebt, keine Sozialhilf­e erhält und täglich zwei Euro einsammelt, nicht arm. So lässt diese Armutsdefi­nition Armut nahezu vollständi­g aus Deutschlan­d verschwind­en – ganz ohne Umverteilu­ng des Reichtums. Wie praktisch.

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