Von der Auto- zur Sensorstadt?
Die Hymnen auf die »Smart Cities« der Zukunft erinnern an den Irrweg der autogerechten Stadt. Eine rein technische Planung geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Was vor 50 Jahren das Auto war, scheint heute der Sensor zu sein. Soll jetzt der Datenstrom den Alltag erleichtern, das Leben effizienter und die Klimaziele erreichbar machen, so schwärmten vor einem guten halben Jahrhundert Stadtplaner vom »flüssigen, niemals unterbrochenen Verkehrsstrom«. Ganze Stadtviertel mussten den Verkehrsgroßprojekten weichen. Wer sich zweifelnd entgegenstellte, wurde als gestrig bezeichnet. Schreckensszenarien kollabierender Verkehrsarterien taten das Ihrige. »Die Entwicklung des Straßenverkehrs in den deutschen Städten nimmt Formen an, die einem Notstand gleichkommen«, schrieb Max-Erich Feuchtinger 1954. Feuchtinger war später einer der Planer der Brenner-Autobahn. Ins gleiche Horn stieß Kurt Leibbrand, in den 50er Jahren als »Karajan der Verkehrslenkung« gefeiert. 1957 verkündete er forsch: »Die Stadt ist ihrer Herkunft nach Verkehrsbrennpunkt. Sie ist Fahrzeugstadt. Wer Fußgängerstadt fordert, vernichtet die Stadt.«
Resultat der Planungen in diesem Sinne waren verwüstete und durch Verkehrsschneisen zerschnittene Innenstädte. Und hätte es die Instandbesetzerbewegung nicht gegeben, dann wären noch in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche, heute fein gentrifizierte Altstadtbereiche den Verkehrsflusspionieren zum Opfer gefallen.
Zur »Smart City« von Morgen gibt es ähnliche Visionen. Sie sind nur noch umfassender. »Smarte Technologien bieten innovative Lösungen für aktuelle und zukünftige Herausforderungen von Städten und Kommunen in verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen. Von Bürgerservice, Wohnen und Mobilität über Bildung, Energie- und Gesundheitsversorgung bis hin zur öffentlichen Sicherheit reichen die Felder, in denen eine Stadt smart ist oder smart(er) werden kann«, warb etwa die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften (acatech) 2011 in einer Stellungnahme. Die acatech wies auch gleich auf die Schlüsselkomponente hin: »Einen entscheidenden Beitrag zur Intelligenz in den Verteilungsnetzen leisten auch die Sensornetze, die damit eine große Bedeutung für Smart Cities erlangen.«
Diese Sensoren stecken nicht nur in den selbstfahrenden Autos der schlauen Städte, sondern auch in den Wohnungen, an den Arbeitsplätzen, im Stadtraum selbst. Etliche davon tragen auch die Menschen selbst als sogenannte Wearables. Laut der Studie »The Wearable Future« der Wirtschaftsberatungsfirma Pricewater- houseCoopers waren 2014 etwa 70 Prozent aller US-Amerikaner bereit, für kleine Prämien Gesundheits- und Bewegungsdaten an Arbeitgeber und Versicherungen automatisch weiterzugeben.
Klar, die Kommunikation der Sensoren hapert noch. So beklagt die acatech eine bisher fehlende Kompatibilität zwischen den Komponenten. Aber dafür gibt es Normierungsverfahren. Die Schlacht um die richtige Norm könnte wichtiger werden als die sich mit der US-Präsidentschaft Trumps andeutenden Handelskriege. »Die Gefahr dabei ist, dass irgendein Global Player einen De-facto-Standard setzt«, befürchtet dabei Lutz Heuser vom Chemnitzer Urban Software Institute, das Stadtverwaltungen beim Schlauerwerden unterstützt.
Erste »smarte« Modellstädte gibt es schon. 2008 wurde der Grundstein für die Null-Emissionsstadt Masdar City in Abu Dhabi gelegt, 2003 für New Songdo City in Südkorea. Masdar City, durch Solar- und Windenergie versorgt, ist per Fuß gut zu erkunden und beherbergt gegenwärtig vor allem Firmenniederlassungen und universitäre Zweigstellen. Songdo City wirbt mit absoluter Abfallneutralität. Der Müll wird aus den Wohnungen herausgesaugt und dann aufwendig recycelt. Was Besuchern allerdings besonders auffällt, ist die beeindruckenden Erfahrung von Leere und Stille. Kein Mensch sei auf der Straße zu sehen, meint ein Blogger aus Südkorea, der die eine Stunde Fahrt von Seoul auf sich genommen hatte. Bis auf vier Personen wollten nicht einmal Überlebende des Erdbebens von Fukushima, denen im Rahmen eines japanisch-koreanischen Abkommens ein Wohnplatz zugesichert war, in die leere Musterstadt kommen, spottete er weiter. Immerhin beeindruckt die schiere Masse an Grün (40 Prozent der Stadtfläche). Die breiten Straßen und die überwältigenden Abstellflächen für Autos erinnern selbst Wohlmeinende aber an die alten Konzepte der autogerechten Stadt.
Ist die Smart City womöglich nur die technologisch aufgerüstete Autostadt? Während komplette Neugründungen wie eben Songdo City diesem alten Paradigma zu folgen scheinen, bieten Smart-City-Anwendungen in schon bestehenden Städten ein vielfältigeres Bild. Weithin gelobt werden etwa das intelligente Routensystem der Müllabfuhr Stockholms, Kopenhagens Versuch, den Stadtverkehr aufs Fahrrad und den ÖPNV zu verlagern, und das OpenPublic-Data-Projekt Helsinkis, wo die von der Stadtverwaltung bereitgestellten Infrastrukturdaten mehr als 150 Apps zum Finden von Hotels, Fahrradausleihstationen, Fahrplan- diensten oder der Visualisierung der Verwendung von Steuereinnahmen dienen.
Nicht immer haben Dienste dieser Art aber die gewünschten Effekte. Christos Cassandras von der Ingenieurwissenschaftlichen Fakultät der Uni Boston wies im Fachjournal »Engineering« (DOI: 10.1016/J.ENG. 2016.02.012) auf den störenden Faktor Mensch hin. Bei Smart-ParkingSystemen in Boston neigten Autofahrer dazu, nicht zum nächsten freien Einzelplatz, sondern zum nächsten Parkplatz mit mehreren freien Plätzen zu fahren, um ihre Chancen zu erhöhen. Das aber führte zu längeren Wegen und höherer Umweltbelastung.
Neben den eher pragmatischen, Einwänden entwickelte sich in den letzten Jahren aber auch eine Fundamentalkritik am Konzept Smart City, die sich vor allem gegen die Werbeversprechen der auf dieses Geschäftsfeld drängenden Großunternehmen richtet.
»Wenn sie die neue Stadt ›smart‹ nennen, ist unsere Stadt dazu verdammt, ›dumm‹ zu sein«, moserte etwa Stararchitekt Rem Kohlhaas in einem Beitrag für die Digitale Agenda der Europäischen Kommission. Kohlhaas beklagt eine Machtverlagerung von Architekten und Stadtplanern hin zu kommerziellen Großunternehmen, die das Gesicht der Städte ändern. »Eine neue Dreieinigkeit ist am Werk. Traditionelle europäische Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind im 21. Jahrhundert abgelöst von Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Das sind die dominanten Werte unserer Kultur – eine Revolution, die kaum bemerkt wurde.«
Auch ästhetisch bahnt sich eine Revolution an. Jedenfalls dann, wenn man sich die schlaue, die nach Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit ausgerichtete Stadt von ihrer technologischen Basis her vorstellt. Wenn selbstfahrende Autos die Bevölkerung einzeln oder in verketteten Wagenkolonnen transportieren, dann müssen die Straßen und Gebäude mit Sensoren ausgerüstet sein. Die Notwendigkeit für Ampeln, Straßen- und Hinweisschilder entfällt. Die Sensoren geben den Bordcomputern Hinweise auf Hindernisse und Ziele. Menschen müssen passend für das System als Menschen zu erkennen sein, idealerweise noch mit Angaben über Alter, Geschlecht und Fitnesszustand, um mögliche Beschleunigungen vorausberechnen zu können.
Das ist kompliziert. Deshalb bietet ein Vordenker des schwedischen Automobilkonzerns Volvo ein noch radikaleres Szenario an. Aric Dromi, Berufsbezeichnung Chief Futurologist der Volvo Gruppe, schlug in einem In- terview mit der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« unlängst vor, den Menschen als aktiven Verkehrsteilnehmer ganz von den Straßen der Smart City zu verbannen. Seine Begründung klingt durchaus schlüssig: »Schon jetzt hält sich kaum jemand an Zebrastreifen oder wartet an der Ampel auf Grün, um die Straße zu überqueren. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn alle Fußgänger wissen, dass die Autos auf jeden Fall von selbst bremsen werden, sobald jemand auch nur einen Fuß auf die Straße setzt. Jeder macht, was er will, keiner hält sich mehr an Regeln.« Diese seltsame Kommunikation zwischen hauptsächlich auf Eigennutz ausgerichteten Menschen und künstlichen Intelligenzen, die auf einen Gemeinschaftsnutzen hin programmiert sind, mündet laut Dromi in eine Situation, die schon die frühen Verkehrsplaner Leibbrand und Feuchtinger schreckte – den Verkehrsinfarkt. Dromi: »Ein selbstfahrendes Auto inmitten von tausend von Hand gesteuerten Autos, das geht gut. Aber tausend selbstfahrende Autos und mittendrin ein einziges herkömmliches Auto, das endet im Verkehrsinfarkt.«
Straßen ohne Menschen also. Dromi schlug als Alternative fliegende Autos, also Passagierdrohnen, vor. Vielleicht ist diese Verkehrsverlagerung nach oben tatsächlich ein Ausweg. Die sensorgesteuerte Verkehrsplanung, ob straßengebunden oder in der Luft, erlaubt zudem, die Transportvehikel von vornherein von militärischen Infrastrukturen, Datenzentren und Firmensitzen fernzuhalten. Mittels Geofencing (Kunstwort aus engl. geographic – geographisch und fence – Zaun) könnte geregelt werden, wer Zugang zu welchen Verkehrswegen und welchen Stadtteilen erhält – und wer eben nicht. So wie das Florian Rötzer, Chefredakteur des Onlinemagazins »Telepolis«, am Beispiel des künftigen größten Rechenzentrums der Telekom in Deutschland in Biere nahe Magdeburg beschreibt, das Ende 2018 eröffnet wird. Es soll sowohl physisch als auch virtuell von der Umgebung abgeschirmt werden (Rötzer, Smart Cities im Cyber War, 2015).
Das ergibt aus Sicherheitserwägungen heraus natürlich Sinn. Werden Sicherheitsaspekte aber priorisiert, nehmen die »verbotenen Zonen« eben zu. Smart Cities zerfallen in Inseln, auf denen man sich als autorisierter Konsument bewegen darf, und den großen dunklen Transitraum dazwischen. Das ganze dystopische Szenario kann man gut bei Rötzer und beim Londoner Urbanisten und Ex-Nokia-Designer Adam Greenfield (»Against the smart city«, 2013) nachlesen.
Kritisch sieht Rötzer zudem den weiteren Verlust von Privatspäre in der Smart City. Er verweist dabei auf den Einfluss des schon 2003 aufgelegten Programms »Combat Zones That See« (CTS) des US-Verteidigungsministeriums. Danach sollen vor allem beim Kampf in urbanen Zonen alle nur möglichen Sensoren – von Smartphones über Überwachungskameras und Energieregelungssysteme bis hin zu WLAN-Routern und vernetzten Kühlschränken – Daten über die Innenräume liefern, die auf diese Art und Weise natürlich den Charakter von Innenräumen verlieren.
Architekt Kohlhaas sieht daher schon ein neues Tätigkeitsfeld für seine Profession voraus. »Wenn die Stadt immer stärker zu einem umfassenden Überwachungssystem wird und das Haus zu einer automatisierten, reaktiven Zelle, mit Geräten wie automatisierten Fenstern, die man öffnen kann, aber nur zu bestimmten Zeiten am Tag, mit Fluren, die mit Sensoren ausgestattet sind, so dass die Änderung der Position einer Person von vertikal zu horizontal aus welchen Gründen auch immer aufgezeichnet wird, mit Räumen, die nicht mehr komplett beheizt werden, sondern die ihre Bewohner mit Sensoren verfolgen und sie in heiße Zonen hüllen – dann wird bald ein Faradayscher Käfig eine notwendige Komponente jedes Hauses werden – ein Sicherheitsraum, in den man sich zurückzieht.«
Wer sich solche Räume finanziell nicht leisten kann oder ihren Anbietern nicht traut, dem bleibt nur die Do-it-yourself-Methode bei der Sabotage der potenziellen Überwachungstechnik.
Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive liegt in diesem individuellen Widerstand gegen die kontrollierende Smart City aber nicht. Immerhin ist die Debatte mittlerweile vielfältiger geworden. Was smarte Stadtplanung ausrichten kann, ganz ohne Sensoren, Kameras und Smartphone-Abfragen, zeigt übrigens das Beispiel Medellin. Ein von den Kämpfen der Drogenbarone schwer geschädigtes Stadtviertel wurde durch Sportanlagen für die Bewohner und die bessere Erreichbarkeit dank einer Seilbahn wieder urban gemacht. Der kolumbianischen Metropole wurde deshalb 2013 der Titel »innovativste Stadt des Jahres« vom Washingtoner Urban Land Institute verliehen. Mögen solche kleineren Veränderungen auch noch kein Entwurf für Smart Cities sein, so zeigt die Entscheidung des renommierten Instituts aber, worum es geht: um die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bewohner der Städte.
»Eine neue Dreieinigkeit ist am Werk. Traditionelle europäische Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind im 21. Jahrhundert abgelöst von Komfort, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Das sind die dominanten Werte unserer Kultur – eine Revolution, die kaum bemerkt wurde.« Rem Kohlhaas, Architekt