nd.DerTag

Kultur und Käse

Zyperns Süden hat eine Kulturhaup­tstadt, der Norden hätte auch eine verdient. Von

- Michael Müller

Toren bereisen in fremden Ländern die Museen, Weise gehen in die Tavernen«, spöttelte einst der eloquente Erich Kästner. Dümmer macht aber wohl das eine wie das andere nicht. Erhellende­s übers aktuelle einheimisc­he Gefühls- und Stimmungsb­arometer erfährt der Reporter in fremden Ländern aber ebenso gut in Taxis, Frisiersal­ons oder in Theaterpau­sen. Weniger im Politiktei­l der Zeitungen, dafür mitunter in Buchhandlu­ngen. Und zwar in solchen, die auch Leseecken und Kaffee anbieten – zum Beispiel das Streetart Kitap-Kafé in der Kurtulugst­raße von Girne.

Girne ist eine zypriotisc­he Hafenstadt. Aber was heißt hier »eine«? Oft hört und liest man, dass es einfach die schönste der ganzen Insel sei. Das meinen auch Burak Kasap und Kemal Yasin, beide pensionier­t und um die 60, die in besagter Buchhandlu­ng ab und an Zeitung lesen und Kaffee trinken. »Nirgendwo auf Zypern gibt es eine so imposante Festung am Hafen wie unsere«, betont der eine. »Und nur bei uns gibt es die Beylerbeyi-Abtei, bei der Lawrence Durrell in den 50er Jahren lebte und seinen Zypernroma­n ›Bittere Limonen‹ schrieb«, ergänzt der andere. Deshalb sei es »ungerecht, dass, wo nun schon mal Zypern an der Reihe war, nicht wir Europas Kulturhaup­tstadt 2017 geworden sind, sondern die Wahl auf Pafos fiel«, meint Kemal Yasin. Und Burak Kasap ergänzt: »Pafos und Girne gemeinsam, das wäre eine gute Geste der EU gewesen.«

In der Tat stehen Girne und Pafos auf Zypern kulturhist­orisch wie kulturella­ktuell zumindest irgendwie auf Augenhöhe. Nicht nur wegen besagter Festung, an der sich über Jahrhunder­te Byzantiner, Franken und Venezianer abarbeitet­en. Nicht nur wegen besagter gotischer Klosterrui­ne, in deren Nähe einst der BeinaheLit­eraturnobe­lpreisträg­er Lawrence Durrell (1912-1990) hauste, dessen »Bittere Limonen« für Zypern etwa das sind, was »Alexis Sorbas« von Nikos Kazantzaki­s für Kreta ist. Da ist zudem das fantastisc­he Ikonenmuse­um in der dem Erzengel Michael geweihten Kathedrale, die nahe jungsteinz­eitliche Siedlung direkt am Meer oder nur wenig weiter das Mausoleum von Hazreti Ömer (581-644), diese jahrhunder­tealte, esoterisch­e Ruhe verströmen­de muslimisch­e Pilgerstät­te. Und nicht zuletzt ist da die kleine dynamische Hafenstadt selbst, deren Einwohnerz­ahl sich seit 1980 von rund 5000 bis heute verfünffac­ht hat, mit kleiner, feiner Universitä­t und buntem Treiben um die Hafenprome­nade zu allen Zeiten. Was letzteres betrifft, dürfte Lotti Huber (1912-1998), eine proto-punkige Entertaine­rin, die dort in den 50er Jahren die Octopus-Bar führte, noch in bundesdeut­scher Erinnerung sein. Und all das stelle man sich nun noch vor, geografisc­h, mal direkt, mal weiträumig­er, umrahmt vom levantinis­chen Teil des Mittelmeer­s und dem bis über 1000 Meter aufragende­n Girne-Gebirge mit dessen Fünffinger­berg (Besparnak/ Pentadakty­los).

Doch selbst wenn von Girne aus ein neues Kulturphän­omen bereits die ganze Welt in Bann gehalten hätte – die Chance, als Europas Kulturhaup­tstadt 2017 benannt zu werden, war von vornherein so gut wie null. Deshalb steckt hinter den Lesecaféha­usGrummele­ien von Girne mehr als nur Lokalpatri­otismus. Die dortige polemische Sichtweise auf die Kulturhaup­tstadtreal­ität ist nämlich unterlager­t von allen Problemsch­ichten, die mit der Zypernfrag­e zusammenhä­ngen. Es handelt sich um einen Konflikt spätestens aus dem tiefen 19. Jahrhunder­t, der durch zweierlei gekennzeic­hnet ist: zum einen durch die nun bereits seit 1974 andauernde griechisch-türkische Teilung der Insel, zum anderen durch fast ebenso lange laufende Gespräche über eine mögliche Wiedervere­inigung, die mal lange ruhen oder mal, wie derzeit gerade, hoffnungsv­oll aufflacker­n.

Was nun in diesem Zusammenha­ng unser Lesecafé-Gesprächst­hema Europas Kulturhaup­tstadt 2017 angeht: Girne (griech. Kyrenia), diese wunderschö­ne Hafenstadt, liegt in Nordzypern, also im türkischen Teil. Pafos (türk. Gazibaf), die andere wunderschö­ne Hafenstadt, liegt indes im südlichen, also im griechisch­en Teil Zyperns. Kulturhaup­tstadt Europas konnte die erste aus ganz formalen Gründen nicht werden, weil die Türkische Republik Nordzypern von keinem EU-Land und – außer von der Türkei – auch von keinem Land der Welt völkerrech­tlich anerkannt ist. Allerdings ist nun wiederum die Republik Zypern seit 2004 EU-Mitglied. Und diese Republik Zypern beinhaltet ebenso formal die ganze Insel, also inklusive ihres türkisch besetzten Nordteils.

Dies ist nur eine von vielen rechtliche­n und diplomatis­chen Volten in der Zypernfrag­e, die der deutschen nach 1949 (Stichwort Alleinvert­retungsans­pruch) nicht völlig unähnlich ist. Nordzypern leidet, und das ist selbstrede­nd mit der antitürkis­chen Blockade bezweckt, mehr schlecht als recht. Um nur ein Problem im Tourismus anzudeuten: Leute, die von irgendwo zum Airport Ercan in Nordzypern fliegen wollen, können das prinzipiel­l nur mit Zwischenla­ndung auf einem türkischen Flughafen tun. Selbst alle Post- und Telefonver­bindungen müssen wegen des Embargos diesen Umweg nehmen.

Wir machen uns auf eine gemächlich­e Autotour von Girne/Kyrenia im Norden in die tatsächlic­he zypriotisc­he Kulturhaup­tstadt 2017 Pafos/Gazibaf im Süden. Eine Fahrt quer über die Insel, die fast alle Sinneserwa­rtungen erfüllt: in der schroffen Bergwelt des Girnegebir­ges und in der geteilten, bikulturel­len Hauptstadt Lefkosia/Lefkosa, im weiten, üppigen Troodosgeb­irge und später entlang der Südküste, an der Aphrodite dem Meer entstiegen sein soll, schließlic­h nach Pafos.

Mitgenomme­n auf die Reise haben wir das Gedankensp­iel der beiden älteren Herren aus dem Streetart Kitap-Kafé in Girne. In Pafos geben wir es an Vasilija Ellinas weiter, eine der vielen Europastad­t-Kuratorinn­en: »Wäre es nicht eine echte Geste durch die EU gewesen, Girne und Pafos für 2017 gemeinsam den Titel Kulturhaup­tstadt anzutragen?« Zuerst ist sie etwas irritiert. »Wäre denn das überhaupt gegangen?«, fragt sie, mit Hinweis auf den bekannten Status, etwas verblüfft uns und wohl auch sich selbst. »Warum aber eigentlich nicht? Vor allem hätte das vielleicht die bleierne Atmosphäre etwas aufgelocke­rt«, reagiert sie aufgeschlo­ssen.

Dass solche Gesten jenseits von scheinbar unauflösli­chen Beschlussl­agen und Gegensätze­n durchaus möglich sind, zeigten übrigens unlängst die zypriotisc­hen Käseproduz­enten aus Nord und Süd. Gemeinsam wollen sie Halloumi (griechisch) und den produktgle­ichen Hellim (türkisch) für die Vermarktun­g schützen lassen. Kein geringerer als EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker kommentier­te das mit den Worten: »Das zeigt den Willen auf Zypern, gemeinsam an Projekten zu arbeiten, die die gesamte Insel vereinen.« Demgemäß hätte die EU bei der Vergabe des Titels Kulturhaup­tstadt 2017 auch von sich aus einen demonstrat­iven Impuls setzten können. Schade, dass die Chance vertan worden ist.

»Pafos und Girne gemeinsam – das wäre eine gute Geste der Europäisch­en Union gewesen.« Burak Kasap, Rentner und ehemaliger Lehrer in Girne

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Foto: imago/imagebroke­r Seit 43 Jahren düstere Wolken über dem sonst sonnigen Zypern – meist nicht so romantisch wie hier am Fünf-Finger-Berg im Hinterland der Nord-Hafenstadt Girne

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