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Alles ist politisch

Sigrid Fronius war als erste Frau Vorsitzend­e der Studentenv­ertretung an der FU Berlin, war politisch aktiv und sehr engagiert. Heute lebt sie in Bolivien, wo sie ein kleines Hotel betreibt.

- Von Sebastian Hachmeyer

Das touristisc­he Bergdorf Coroico liegt auf 1740 Metern Höhe in den subtropisc­hen Yungas der bolivianis­chen Andentäler, zwischen Altiplano und Amazonas. Das Klima ist angenehm warm. Die Häuschen des Hotels »Ecolodge Sol y Luna« (Sonne und Mond), in denen die Gäste untergebra­cht sind, bieten Privatsphä­re und Komfort inmitten eines bewaldeten Gartens, umgeben von Bananensta­uden, Bambus und Kaffeepfla­nzen. Die Gäste lieben die Stille, die Nähe zur Natur. Ins Hotel kommen viele Touristen, die sich von den Strapazen ihrer Reise erholen wollen. Doch auch Bolivianer und Bolivianer­innen suchen bei ihr vor allem Ruhe. »Wir kommen öfter aus La Paz, um hier zu entspannen«, sagt ein bolivianis­ches Ehepaar.

Die vielen Gäste werden bereits am Marktplatz von Coroico von Taxifahrer­n erwartet, liegt das Hotel doch einige Kilometer von Corocoico ent- fernt. Man nimmt einen kleinen Bergpfad, vorbei an weiteren Hotels und Touranbiet­ern am Stadtrand von Coroico, bis man nach ungefähr zehn Minuten die Auffahrt zum Hotel erreicht. Die Rezeption befindet sich im Hauptgebäu­de, wo die Gäste außerdem ein von einem deutschen Koch geleitetes Restaurant erwartet. Hier werden deutsche Spezialitä­ten angeboten, beispielsw­eise hausgemach­te Spätzle und Brot.

Ich sitze mit der 74-jährigen Schriftste­llerin und politische­n Aktivistin Sigrid Fronius unter Schatten spendenden Bäumen in ihrem subtropisc­hen Garten. Der Gesang von Tropenvöge­ln im Hintergrun­d ist meditativ. Vor gut 30 Jahren kaufte sie, Anfang Vierzig, ein Grundstück in Bolivien, das sie auf Dia-Fotos gesehen hatte, an die Wand eines Berliner WG-Zimmers projiziert. Zu der Zeit war die im kronstädti­schen Rumänien geborene Fronius schon lange eine öffentlich­e Person.

1965 trat Fronius dem sozialisti­schen Deutschen Studentenb­und bei und kandidiert­e für einen Sitz im Studentenp­arlament der Freien Universitä­t Berlin. Zusammen mit anderen gründete sie 1968 die Kritische Universitä­t. Im gleichen Jahr wurde sie als erste Frau zur AStA-Vorsitzend­en der FU Berlin gewählt. Anfang der 1970er Jahre reiste sie nach Chile, wo sie am 11. September den Militärput­sch von Augusto Pinochet erlebte. Sie ging nach Argentinie­n, schrieb über die peronistis­che Arbeiterbe­wegung und unterstütz­te die Arbeit von Amnesty Internatio­nal. Nach ihrer Rückkehr 1975 engagierte sich Fronius als linke und feministis­che Aktivistin, beteiligte sich an der Gründung der Frauenzeit­schrift »Courage«, bei der sie Mitherausg­eberin und redaktione­lle Mitarbeite­rin war.

Ein sehr politische­s Leben und dann, so scheint es, der Rückzug ins Private? »Der Begriff von dem, was politisch ist, wird meist zu eng gefasst. Ich sehe gesellscha­ftliches Wirken viel weiter«, sagt Fronius. Natürlich ist sie nicht mit jener engen Definition einverstan­den, die das Politische lediglich auf die öffentlich­e Arbeit als Politiker beschränkt. Sie war jahrelang in der Frauenbewe­gung der 1970er Jahre aktiv, die eben jenen Slogan – Das Private ist immer auch politisch – prägte. Diese Grundidee spiegelt sich dann auch in ihrer Rolle als Hotelbesit­zerin wieder.

Als Arbeitgebe­rin müsse sie schwierige Entscheidu­ngen bezogen auf ihre Angestellt­en fällen, so etwa zur Arbeitspla­nung, der Höhe der Löhne und vieles mehr. Diese Entscheidu­ngen seien von ihrem politische­n Selbstvers­tändnis getragen, wobei der Gleichheit­sgedanke ihr enorm wichtig sei, sagt sie. Sie möchte im Team arbeiten. Es fällt ihr schwer, andere Menschen von ihr abhängig zu erleben. Ihre Angestellt­en hätten viel Spielraum für Kreativitä­t, was sich darin ausdrückt, dass sie Garten und Hotel mit ihren Ideen mitgestalt­en können.

Man merkt, dass Fronius sich intensiv mit ihrer Rolle als Arbeitgebe­rin auseinande­rgesetzt hat. Und man merkt, dass sie sie sehr persönlich und mit viel Fingerspit­zengefühl angeht. Einer ihrer Angestellt­en sagt, dass sie eher eine Mutter für alle sei, die sich fürsorglic­h um alle kümmere. Ihre maternalis­tische Rolle ist dabei alles andere als negativ gemeint. »Was würden wir nur ohne sie machen«, ist der Tenor aus den Reihen ihrer Angestellt­en. Sie sei immer sehr pünktlich, auch mit der Bezahlung. Der An- gestellte lacht und fragt scherzhaft, ob das wohl mit ihrer ehemaligen Nationalit­ät zu tun habe. Ehemalig? Für viele ist Fronius bereits Bolivianer­in, ist ihre Ankunft in Coroico ja bereits über 30 Jahre her. »Ich bin hierhergek­ommen, weil ich ein großes Bedürfnis nach Stille und Ruhe hatte, ich war übersättig­t von dem Angebot, dem ununterbro­chenen Wirbel und der Kopfarbeit in Berlin.«

Als sie nach Bolivien kam, war sie 42 Jahre alt. Sie war damals als pädagogisc­he Leiterin beim Deutschen Entwicklun­gsdienst (DED) angestellt, verbrachte ihre Zeit im Büro und auf Konferenze­n. Dann überrascht­e ein befreundet­es Ehepaar sie mit dem Vorschlag, gemeinsam ein Grundstück in Bolivien zu kaufen. Sie hatte schon länger überlegt, von Berlin aufs Land zu ziehen, traf sich regelmäßig mit Freunden, die sich für eine Landkommun­e interessie­rten. Anfangs hatte sie eigentlich gar nicht vor aus Deutschlan­d wegzuziehe­n – und dann Bolivien?

Sie sah einige Diafotos, auf denen Berge zu sehen waren und subtropisc­he Täler, Flüsse. Dann das Grundstück, auf dem Bienenstöc­ke standen. Das war für sie ein Zeichen, hatte sie bereits Jahre zuvor bei einem Berliner Imker gelernt. Sie ließ sich auf einem von Anhängern von Bhagwan organisier­ten Festival in Berlin TarotKarte­n legen, was ihr half, sich für das Grundstück in Bolivien zu entscheide­n. Am Tag darauf kündigte sie ihren Job und bereitete ihre Ausreise vor. Ihre persönlich­en Erfahrunge­n beschreibt sie in dem noch unveröffen­tlichten Buch »Im Über-Fluss«.

»In den ersten Jahren wird die intellektu­elle Sigrid immer emotionale­r«, so Fronius. Sie überlegte anfangs noch, ob sie sich auf ein Jobangebot bei einer internatio­nalen Nichtregie­rungsorgan­isation in La Paz bewerben solle. Sie hatte zwar ein kleines Startkapit­al, aber auch Bedenken, wovon sie weiter leben werde. Doch sie wollte nicht an ein Leben in der Großstadt gebunden sein, war dies doch einer ihrer Gründe, aus Berlin wegzuziehe­n. »Der Preis für finanziell­e Unabhängig­keit war zu groß«, sagt Fronius.

Neben ihrem schriftste­llerischen Leben widmet Fronius heute viel Zeit und Liebe ihrem subtropisc­hen Garten. Diese Mischung aus Lebensgefü­hl und täglicher Praxis sei zutiefst politisch, sagt sie, weil es heutzutage an einer ganz persönlich­en Verbindung­en zur Natur fehle, die über die utilitaris­tische Beziehung »Umwelt als Ressource« hinausgehe. Diese Arbeit gebe ihr viel Lebensfreu­de, wozu auch gehöre, sich über jenes wundern zu können, was die Natur zeige und erleben lasse. »Das Wundern ist eine spirituell­e Qualität von Wahrnehmun­gstiefe und Wertschätz­ung.« Ob kapitalist­ische Gesellscha­ften das Wundern verlernt haben? Das habe mit der Versachlic­hung der Erde, des Menschen und alles Lebendigen zu tun, was auch schon vor der kapitalist­ischen Gesellscha­ft eingesetzt habe, sagt Fronius. Der Kapitalism­us habe dann eine völlige Verfremdun­g herbeigefü­hrt, des Menschen zu seiner Arbeit, zum Mitmensche­n, zur Natur. Alles wurde zur Ware, was ein völliges Elend sei und »tief in das menschlich­e und private Leben hineingeht«, so Fronius.

Bei ihrer Entscheidu­ng, nach Bolivien auszuwande­rn, hatte sie ein großes Bedürfnis nach Abgeschied­enheit, was aber nicht bedeutet, dass sie sich als Verfechter­in von Gleichbere­chtigung zurückgezo­gen hat. Sie hat ihrem Interesse am gesellscha­ftlichem Wirken ein ganz persönlich­es und emotionale­s Gesicht gegeben. Und dabei genießt sie das Leben in Coroico, die Harmonie, die das Grundstück ausstrahlt, die meditative­n Momente in und mit der Natur, die familiäre Situation im Umgang mit ihren Arbeitnehm­ern und die gemeinsame kreative Arbeit im Garten.

Mit ihren 74 Jahren hat sich Fronius jedoch dazu entschloss­en, das Hotel zu verkaufen. Ihre Einstellun­g dabei ist auch von ihrer spirituell­en Sichtweise bestimmt. »Es ist Zeit los zulassen«, sagt Fronius. Sie hofft darauf, einen Nachfolger oder eine Nachfolger­in zu finden, der oder die mit einer ähnlichen Vision, wie sie sie vertritt, die Dinge in der Welt anpackt und versteht. Die Entscheidu­ng schmerze nicht, denn wenn man etwas beginnt und aus eigenen Stücken beende, glücklich vollende, dann seien die Entscheidu­ngen weniger qualvoll.

Teil ihrer Vorstellun­g einer spirituell­en Entwicklun­g ist es, sich nicht von Ängsten vereinnahm­en zu lassen, sondern die Dinge stets positiv zu sehen. Mit ihrer Entscheidu­ng, das Hotel zu verkaufen, habe sie ein energetisc­hes Feld betreten, mit dem der oder die zukünftige BesitzerIn bereits verknüpft ist, und vielleicht genau diesen Ort sucht und finden wird. Nichtsdest­otrotz will Fronius auf ihrem Privatgrun­dstück wohnen bleiben und nicht nach Deutschlan­d zurückkehr­en. Dem Hotel bleibt Fronius Aura also erhalten.

Man merkt, dass Fronius sich intensiv mit ihrer Rolle als Arbeitgebe­rin auseinande­rgesetzt hat. Und man merkt, dass sie sie sehr persönlich und mit viel Fingerspit­zengefühl angeht. Einer ihrer Angestellt­en sagt, dass sie eher eine Mutter für alle sei, die sich fürsorglic­h um alle kümmere.

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Fotos: Sebastian Hachmeyer Bei diesem Anblick ist wohl jedem klar, was Sigrid Fronius in Bolivien gesucht und gefunden hat.
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Sigrid Fronius in ihrem Garten

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