Alles ist politisch
Sigrid Fronius war als erste Frau Vorsitzende der Studentenvertretung an der FU Berlin, war politisch aktiv und sehr engagiert. Heute lebt sie in Bolivien, wo sie ein kleines Hotel betreibt.
Das touristische Bergdorf Coroico liegt auf 1740 Metern Höhe in den subtropischen Yungas der bolivianischen Andentäler, zwischen Altiplano und Amazonas. Das Klima ist angenehm warm. Die Häuschen des Hotels »Ecolodge Sol y Luna« (Sonne und Mond), in denen die Gäste untergebracht sind, bieten Privatsphäre und Komfort inmitten eines bewaldeten Gartens, umgeben von Bananenstauden, Bambus und Kaffeepflanzen. Die Gäste lieben die Stille, die Nähe zur Natur. Ins Hotel kommen viele Touristen, die sich von den Strapazen ihrer Reise erholen wollen. Doch auch Bolivianer und Bolivianerinnen suchen bei ihr vor allem Ruhe. »Wir kommen öfter aus La Paz, um hier zu entspannen«, sagt ein bolivianisches Ehepaar.
Die vielen Gäste werden bereits am Marktplatz von Coroico von Taxifahrern erwartet, liegt das Hotel doch einige Kilometer von Corocoico ent- fernt. Man nimmt einen kleinen Bergpfad, vorbei an weiteren Hotels und Touranbietern am Stadtrand von Coroico, bis man nach ungefähr zehn Minuten die Auffahrt zum Hotel erreicht. Die Rezeption befindet sich im Hauptgebäude, wo die Gäste außerdem ein von einem deutschen Koch geleitetes Restaurant erwartet. Hier werden deutsche Spezialitäten angeboten, beispielsweise hausgemachte Spätzle und Brot.
Ich sitze mit der 74-jährigen Schriftstellerin und politischen Aktivistin Sigrid Fronius unter Schatten spendenden Bäumen in ihrem subtropischen Garten. Der Gesang von Tropenvögeln im Hintergrund ist meditativ. Vor gut 30 Jahren kaufte sie, Anfang Vierzig, ein Grundstück in Bolivien, das sie auf Dia-Fotos gesehen hatte, an die Wand eines Berliner WG-Zimmers projiziert. Zu der Zeit war die im kronstädtischen Rumänien geborene Fronius schon lange eine öffentliche Person.
1965 trat Fronius dem sozialistischen Deutschen Studentenbund bei und kandidierte für einen Sitz im Studentenparlament der Freien Universität Berlin. Zusammen mit anderen gründete sie 1968 die Kritische Universität. Im gleichen Jahr wurde sie als erste Frau zur AStA-Vorsitzenden der FU Berlin gewählt. Anfang der 1970er Jahre reiste sie nach Chile, wo sie am 11. September den Militärputsch von Augusto Pinochet erlebte. Sie ging nach Argentinien, schrieb über die peronistische Arbeiterbewegung und unterstützte die Arbeit von Amnesty International. Nach ihrer Rückkehr 1975 engagierte sich Fronius als linke und feministische Aktivistin, beteiligte sich an der Gründung der Frauenzeitschrift »Courage«, bei der sie Mitherausgeberin und redaktionelle Mitarbeiterin war.
Ein sehr politisches Leben und dann, so scheint es, der Rückzug ins Private? »Der Begriff von dem, was politisch ist, wird meist zu eng gefasst. Ich sehe gesellschaftliches Wirken viel weiter«, sagt Fronius. Natürlich ist sie nicht mit jener engen Definition einverstanden, die das Politische lediglich auf die öffentliche Arbeit als Politiker beschränkt. Sie war jahrelang in der Frauenbewegung der 1970er Jahre aktiv, die eben jenen Slogan – Das Private ist immer auch politisch – prägte. Diese Grundidee spiegelt sich dann auch in ihrer Rolle als Hotelbesitzerin wieder.
Als Arbeitgeberin müsse sie schwierige Entscheidungen bezogen auf ihre Angestellten fällen, so etwa zur Arbeitsplanung, der Höhe der Löhne und vieles mehr. Diese Entscheidungen seien von ihrem politischen Selbstverständnis getragen, wobei der Gleichheitsgedanke ihr enorm wichtig sei, sagt sie. Sie möchte im Team arbeiten. Es fällt ihr schwer, andere Menschen von ihr abhängig zu erleben. Ihre Angestellten hätten viel Spielraum für Kreativität, was sich darin ausdrückt, dass sie Garten und Hotel mit ihren Ideen mitgestalten können.
Man merkt, dass Fronius sich intensiv mit ihrer Rolle als Arbeitgeberin auseinandergesetzt hat. Und man merkt, dass sie sie sehr persönlich und mit viel Fingerspitzengefühl angeht. Einer ihrer Angestellten sagt, dass sie eher eine Mutter für alle sei, die sich fürsorglich um alle kümmere. Ihre maternalistische Rolle ist dabei alles andere als negativ gemeint. »Was würden wir nur ohne sie machen«, ist der Tenor aus den Reihen ihrer Angestellten. Sie sei immer sehr pünktlich, auch mit der Bezahlung. Der An- gestellte lacht und fragt scherzhaft, ob das wohl mit ihrer ehemaligen Nationalität zu tun habe. Ehemalig? Für viele ist Fronius bereits Bolivianerin, ist ihre Ankunft in Coroico ja bereits über 30 Jahre her. »Ich bin hierhergekommen, weil ich ein großes Bedürfnis nach Stille und Ruhe hatte, ich war übersättigt von dem Angebot, dem ununterbrochenen Wirbel und der Kopfarbeit in Berlin.«
Als sie nach Bolivien kam, war sie 42 Jahre alt. Sie war damals als pädagogische Leiterin beim Deutschen Entwicklungsdienst (DED) angestellt, verbrachte ihre Zeit im Büro und auf Konferenzen. Dann überraschte ein befreundetes Ehepaar sie mit dem Vorschlag, gemeinsam ein Grundstück in Bolivien zu kaufen. Sie hatte schon länger überlegt, von Berlin aufs Land zu ziehen, traf sich regelmäßig mit Freunden, die sich für eine Landkommune interessierten. Anfangs hatte sie eigentlich gar nicht vor aus Deutschland wegzuziehen – und dann Bolivien?
Sie sah einige Diafotos, auf denen Berge zu sehen waren und subtropische Täler, Flüsse. Dann das Grundstück, auf dem Bienenstöcke standen. Das war für sie ein Zeichen, hatte sie bereits Jahre zuvor bei einem Berliner Imker gelernt. Sie ließ sich auf einem von Anhängern von Bhagwan organisierten Festival in Berlin TarotKarten legen, was ihr half, sich für das Grundstück in Bolivien zu entscheiden. Am Tag darauf kündigte sie ihren Job und bereitete ihre Ausreise vor. Ihre persönlichen Erfahrungen beschreibt sie in dem noch unveröffentlichten Buch »Im Über-Fluss«.
»In den ersten Jahren wird die intellektuelle Sigrid immer emotionaler«, so Fronius. Sie überlegte anfangs noch, ob sie sich auf ein Jobangebot bei einer internationalen Nichtregierungsorganisation in La Paz bewerben solle. Sie hatte zwar ein kleines Startkapital, aber auch Bedenken, wovon sie weiter leben werde. Doch sie wollte nicht an ein Leben in der Großstadt gebunden sein, war dies doch einer ihrer Gründe, aus Berlin wegzuziehen. »Der Preis für finanzielle Unabhängigkeit war zu groß«, sagt Fronius.
Neben ihrem schriftstellerischen Leben widmet Fronius heute viel Zeit und Liebe ihrem subtropischen Garten. Diese Mischung aus Lebensgefühl und täglicher Praxis sei zutiefst politisch, sagt sie, weil es heutzutage an einer ganz persönlichen Verbindungen zur Natur fehle, die über die utilitaristische Beziehung »Umwelt als Ressource« hinausgehe. Diese Arbeit gebe ihr viel Lebensfreude, wozu auch gehöre, sich über jenes wundern zu können, was die Natur zeige und erleben lasse. »Das Wundern ist eine spirituelle Qualität von Wahrnehmungstiefe und Wertschätzung.« Ob kapitalistische Gesellschaften das Wundern verlernt haben? Das habe mit der Versachlichung der Erde, des Menschen und alles Lebendigen zu tun, was auch schon vor der kapitalistischen Gesellschaft eingesetzt habe, sagt Fronius. Der Kapitalismus habe dann eine völlige Verfremdung herbeigeführt, des Menschen zu seiner Arbeit, zum Mitmenschen, zur Natur. Alles wurde zur Ware, was ein völliges Elend sei und »tief in das menschliche und private Leben hineingeht«, so Fronius.
Bei ihrer Entscheidung, nach Bolivien auszuwandern, hatte sie ein großes Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, was aber nicht bedeutet, dass sie sich als Verfechterin von Gleichberechtigung zurückgezogen hat. Sie hat ihrem Interesse am gesellschaftlichem Wirken ein ganz persönliches und emotionales Gesicht gegeben. Und dabei genießt sie das Leben in Coroico, die Harmonie, die das Grundstück ausstrahlt, die meditativen Momente in und mit der Natur, die familiäre Situation im Umgang mit ihren Arbeitnehmern und die gemeinsame kreative Arbeit im Garten.
Mit ihren 74 Jahren hat sich Fronius jedoch dazu entschlossen, das Hotel zu verkaufen. Ihre Einstellung dabei ist auch von ihrer spirituellen Sichtweise bestimmt. »Es ist Zeit los zulassen«, sagt Fronius. Sie hofft darauf, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin zu finden, der oder die mit einer ähnlichen Vision, wie sie sie vertritt, die Dinge in der Welt anpackt und versteht. Die Entscheidung schmerze nicht, denn wenn man etwas beginnt und aus eigenen Stücken beende, glücklich vollende, dann seien die Entscheidungen weniger qualvoll.
Teil ihrer Vorstellung einer spirituellen Entwicklung ist es, sich nicht von Ängsten vereinnahmen zu lassen, sondern die Dinge stets positiv zu sehen. Mit ihrer Entscheidung, das Hotel zu verkaufen, habe sie ein energetisches Feld betreten, mit dem der oder die zukünftige BesitzerIn bereits verknüpft ist, und vielleicht genau diesen Ort sucht und finden wird. Nichtsdestotrotz will Fronius auf ihrem Privatgrundstück wohnen bleiben und nicht nach Deutschland zurückkehren. Dem Hotel bleibt Fronius Aura also erhalten.
Man merkt, dass Fronius sich intensiv mit ihrer Rolle als Arbeitgeberin auseinandergesetzt hat. Und man merkt, dass sie sie sehr persönlich und mit viel Fingerspitzengefühl angeht. Einer ihrer Angestellten sagt, dass sie eher eine Mutter für alle sei, die sich fürsorglich um alle kümmere.