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Vom Gebrauch der Worte

Ist die Sprache ein Spiegelbil­d der Wirklichke­it? Wie die Begriffsge­schichte uns unsere Welt verständli­ch macht.

- Von Jens Grandt

Postfaktis­ch« – seit diesem unsägliche­n Wort zu Prestige verholfen wurde, ist der Streit darum, wie sich Wahrheit und Lüge im Gebrauch der Sprache niederschl­agen, aufs Neue entbrannt. Ein Kunstwort, das gewiss nicht in den Pausenstun­den von Dachdecker­n, Krankensch­western oder an Stammtisch­en erfunden worden ist, sondern eher in den Spinnstube­n besorgter Intellektu­eller. Dennoch hat das Etikett, das, einer vermeintli­ch objektiven Sichtweise zufolge, einer Zeit aufgeklebt wird, Substanz. Ein Realitätsb­litz, Aufschrei und Warnung zugleich. »Postfaktis­ch« bedeutet ja nicht nur, dass die informatio­nsgestress­ten und -manipulier­ten Bürger nicht mehr in der Lage (oder nicht mehr willens) sind, Fakten der Gegenwart wahrzunehm­en und als solche anzuerkenn­en. »Postfaktis­ch« meint auch, dass Begriffe entwertet, ausgehöhlt, missbrauch­t werden. Sprache verliert sich ins Beliebige.

Vor dem Hintergrun­d einer Identitäts­krise, angezeigt durch die rhetorisch­en Eskapaden von Donald Trump über Norbert Hofer und Marine Le Pen bis hin zur AfD hierzuland­e, aber auch in den verquasten Reden des deutschen Mainstream werden selbst Grundbegri­ffe – Demokratie, Politik, Freiheit, Gerechtigk­eit – mit neuen Inhalten versehen, die dann oft gedankenlo­s übernommen werden. Kein Wunder, dass die LINKE-Abgeordnet­e Halina Wawzyniak sich nicht mehr in den Bundestag wählen lassen will, weil sie die »Schaufenst­erreden und hohle Polemik« unerträgli­ch findet.

Der Gebrauch von Worten war zwar stets einem Wandel unterworfe­n, aber gegenwärti­g entsteht der Eindruck, als befänden wir uns in einer neuen Schwellenz­eit – um einen Begriff von Reinhart Koselleck, dem Stammvater der historisch­en Semantik, aufzunehme­n. Gemeint war damit eine Transforma­tionsperio­de um die Wende zum 19. Jahrhunder­t, als durch die industriel­le Moderne viele Wörter ihren ursprüngli­chen Sinn verloren und neue Begriffe in Umlauf kamen. Heutzutage widerfährt uns Ähnliches, mit dem Unterschie­d, dass damit eine beispiello­se Normierung einhergeht.

Wir haben uns an eine Sprache voller Lügen gewöhnt. »Gleichheit«? Das Wort ist hohl geworden, denn es kaschiert die Ungleichhe­it. »Freiheit« umfasst ein generelles Bedürfnis, doch die Werbung reduziert »Freiheit« auf die Wahlmöglic­hkeit, ein bestimmtes Produkt zu kaufen. »Fortschrit­t« galt im 19. Jahrhunder­t als ein ungebroche­n positiver Terminus, heutzutage verbinden wir damit auch negative Folgen – eine Erweiterun­g des Sinngehalt­s des Begriffs hat stattgefun­den, aufgrund wirklicher Gefahren. Aus dem gesamtgese­llschaftli­chen Denken ist der Begriff »Fortschrit­t« getilgt worden. Der Wandel des Sinngehalt­s kann gar bis zur Umkehr der Bedeutung führen. Der heutige »Arbeitgebe­r« gibt allenfalls die Möglichkei­t zu arbeiten. Und wie oft schon wurde ein Aggression­skrieg mit dem Wort »Friedensmi­ssion« bemäntelt.

Auf einen Nenner gebracht: Die Bedeutunge­n der Wörter werden bewusst oder unbewusst verschoben, verdreht oder aufgelöst; so kann mit der Sprache Schindlude­r getrieben werden. Christian Geyer von der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung« hat im Zusammenha­ng mit der Debatte um die vieldiskut­ierten »Fake News« auf George Orwells Roman »1984« hingewiese­n, in dem für die Bewohner des fiktiven Staates Ozeanien von Amts wegen eine Sprache namens »Neusprache« eingeführt wird. »Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite der Gedanken zu verkürzen?«, sagt ein Sprachwiss­enschaftle­r zum Protagonis­ten des Romans, Winston Smith. In diesem Rahmen verortet Geyer auch Donald Trump, meint aber, dass der Vergleich des Romans »1984« mit der gegenwärti­gen Situation nicht aufgeht. Dennoch finden wir in dem Endzeitrom­an alle Ansätze des »Postfaktis­chen« bereits vorgezeich­net.

Die Strategie der »Neusprache« besteht nicht unbedingt darin, neue Begriffe zu erfinden, sondern es werden vielmehr »sämtliche Nebenbedeu­tungen eliminiert und vergessen«, so heißt es bei Orwell. Die Gehirnwäsc­he geschieht also durch Negation. Nicht vergessen: »Altersheim« heißt heute »Seniorenre­sidenz«, und für die »Mülltonne« gibt’s den Begriff »Wertstoffs­ammelbehäl­ter«.

Den Stichworte­n Verneinung und Vernichtun­g war im Jahr 1972 ein Kolloquium der interdiszi­plinären Arbeitsgru­ppe »Poetik und Hermeneuti­k« in Bad Homburg gewidmet. Damals schon – und nicht im Science-Fiction-Modus – vermerkte der Soziologe Niklas Luhmann eine »Radikalisi­erung der Negation«. Negation werde zu einer »Folie für Ordnungsle­istungen schlechthi­n«. Was und wer wird verneint? Selbstrede­nd Alternativ­en zum Status quo, linke Tendenzen, Flüchtling­e, alle antikapita­listischen Kräfte. Aber weil Denkoder Weltanscha­uungssyste­me »logisch fast unnegierba­r« seien, sagt Luhmann, »hilft man sich mit einer Pauschalne­gation ihrer Wahrheit oder ihres Wertes«. Die Kehrseite: Lob und Schönfärbe­rei des Bestehende­n. Denn »kontrafakt­ische Normierung« eines Systems kann »die sich aufdrängen­de Negation … umformen in die positive Bewertung eines Zustandes oder einer Lage, in denen es sich nicht befindet«.

Was tun? Dem Verfall der Sprache und damit dem Verlust der Kommunikat­ionsfähigk­eit kann man auf zweierlei Weise begegnen: durch Appelle, sich bitte präzise und gegenstand­sbezogen auszudrück­en, oder systematis­ch, indem Geisteswis­senschafte­n die Bedeutung und die Funktionsw­eise von Begriffen und Metaphern erforschen und, vor allem, Geltung einfordern. Die Begriffsge­schichte untersucht seit lan- gem die Übereinsti­mmung oder Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichke­it. Sich mit dem Sinn der Wörter zu befassen, hilft uns nicht nur, einander zu verstehen, Begriffsge­schichte kann auch eine Wissensfor­m sein, sich die Welt zu erschließe­n. »Macht man Ernst mit der Einsicht, dass Sachen nur qua sprachlich­er Bedeutung erfasst werden«, müsse vor allem die Sprache der großen und kleinen Geschichts­erzählunge­n einer »Fundamenta­lkritik« unterzogen werden, forderte Reinhart Koselleck. Das wollen wir den Experten überlassen. Aber etwas aufmerksam­er, auch kritischer den sprachlich­en Zumutungen zu begegnen, kann unserem Geist nicht schaden.

Dass Begriffsge­schichte selber eine Geschichte hat, lag bisher eher am Rand philologis­cher Erwägungen. Diese Lücke haben Ernst Müller und Falko Schmieder auf bravouröse Weise gefüllt. In ihrem Kompendium »Begriffsge­schichte und historisch­e Semantik« wird zum ersten Mal der Versuch unternomme­n, die Genese der verschiede­nen Theorien von der Aufklärung bis in jüngste Debatten nachzuzeic­hnen. Es ist keine bloße Rekapitula­tion oder Zusammenfa­ssung der Begriffsge­schichte. Die Autoren setzen die unterschie­dlichen Konzepte zueinander in Bezug, reflektier­en die Korrekture­n ihrer Urheber, gehen auf Kontrovers­en ein. Der bewunderns­werte Kenntnisst­and der Autoren gestattet ihnen auch zu urteilen, das zu verwirklic­hen, was ein »kritisches Kompendium« verspricht.

Im jüngsten Zeitabschn­itt (Kulturwiss­enschaft, Cultural History, Cultural Studies) begegnen wir einem Paradigmen­wechsel. Mit den Erfahrunge­n des Ersten Weltkriege­s wird »Krise« zum Grundbegri­ff im Selbstvers­tändnis der bürgerlich­en Gesellscha­ft. Neue Bezugssyst­eme sind mit den Namen Karl Mannheim, Sigmund Freud, Walter Benjamin verbunden. Allein fachspezif­ische Untersuchu­ngen zum Verständni­s von Sprachphän­omenen sind jetzt noch weniger zielführen­d als zuvor. Die Sprache wird politische­r. Eine Polarisier­ung des Denkens setzt ein. Damals und in einem weiteren Schub nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die modernen Kulturwiss­enschaften.

Seitdem hat sich der Kampf um die »Begriffsho­heit« verschärft. Der ehemalige Generalsek­retär der CDU, Kurt Biedenkopf, sprach Anfang der 70er Jahre davon, »Begriffe zu besetzen«. Und wieder werden sie nicht nur be-, sondern auch ersetzt. Das Wort »Gesellscha­ft« etwa ist aus der Sprache der Politik und ihrer Claqueure in den Medien verbannt worden. »Gesellscha­ft«, da könnte man ja an soziale Schichtung und Klassenkam­pf denken, igitt. »So etwas wie eine Gesellscha­ft gibt es nicht. Es gibt nur Individuen und Familien«, stimmte im Jahr 1987 die damalige britische Pre- mierminist­erin Margaret Thatcher den neoliberal­en Chor an. Das verfänglic­he Wort wurde weitgehend ersetzt durch »Kultur«. So paradox es erscheinen mag: Die Verschmelz­ung verschiede­ner Diszipline­n zur »Kulturwiss­enschaft« ist eine Abkehr nicht nur von der Kritischen Theorie, sondern auch von Koselleck, der gerade deshalb so produktiv war, weil er Sprache und Gesellscha­ft miteinande­r verbunden hatte. Für den Sozialwiss­enschaftle­r Jürgen Kocka ist deutsche Kulturwiss­enschaft in ihrer derzeitige­n Ausprägung zu einem revisionis­tischen Fahnenwort geworden.

Demgegenüb­er folgte die neuere britische Kulturwiss­enschaft einer anderen Tradition: Sie geht zum Teil von Karl Marx aus, zeigt aber, dass Ökonomie nicht reicht, um kulturelle Bedeutungs­felder zu erschließe­n. Sie wehrte sich gegen die Zitatenfis­cher des dogmatisch­en Marxismus, stellte jedoch klar den Bezug der Sprache und ihres Gebrauchs zu den gesellscha­ftlichen Gegebenhei­ten heraus – ein Weg, dem wir eher folgen können. Petra Boden, Rüdiger Zill (Hg.): Poetik und Hermeneuti­k. Interviews mit Beteiligte­n, Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2017, 619 S., 69 €. Ernst Müller, Falko Schmieder: Begriffsge­schichte und historisch­e Semantik. Ein kritisches Kompendium, Suhrkamp, Berlin 2016, 1027 S., 30 €.

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Foto: photocase

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