Jutta Seidel
In der männerdominierten Leipziger Historikerzunft der 1970er und 1980er Jahre war Jutta Seidel eine Ausnahmeerscheinung. Sie schrieb sich als erste ordentliche Professorin der historischen Wissenschaften in die Annalen der altehrwürdigen Alma mater lipsiensis ein.
Die gelernte Stenotypistin, Tochter eines Zimmermanns und einer Buchbinderin, gehörte zu jener legendären Absolventengeneration der Arbeiter-und Bauern-Fakultät, die ihre akademischen Sporen als erste in der Sowjetunion erwarb. Sie war eine leidenschaftliche Forscherin. Gefeit vor der Gunst des Augenblicks und beflügelt durch die Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit Gelehrten wie Walter Markov und Manfred Kossok, hat sie frühzeitig ein eigenes Forschungsprogramm entfaltet und mit Fortune verwirklicht. Dessen Originalität und historische Tragweite tritt im Lichte der europäischen Integration, ihrer Errungenschaften wie Gefährdungen, prägnant hervor. Die Forschungsergebnisse von Jutta Seidel, ihrer Schülerinnen und Schüler dokumentieren nämlich das filigrane Netzwerk, die Infrastruktur der sozialdemokratischen Emanzipationsbewegungen und vermitteln erstaunliche historische Einsichten für ein gutnachbarliches Miteinander in Europa. Der kategorische Imperativ der Historikerin war »ad fontes«, gemäß dem Motto der Humanisten der Frühen Neuzeit: »zu den Quellen«. Sie mochte keine Eleven, die den Aktenstaub der Archive scheuten oder vor Sprachbarrieren kapitulierten.
Jutta Seidel war nicht nur Forscherin und Hochschullehrerin. Ihr herausragendes wissenschaftliches Werk schuf sie als Mutter zweier Kinder und Ehefrau eines Philosophen, dessen kühne Ideen immer wieder Diskurspolizisten auf den Plan riefen. Es ist unmöglich, über Jutta Seidel zu schreiben, ohne an Helmut Seidel zu denken. Es war die Liebe ihres Lebens, der Mann, mit dem sie sechs Jahrzehnte Freud und Leid geteilt hat. Es ist bewunderungswürdig, was Jutta Seidel geleistet hat, um den literarischen Nachlass eines der bedeutendsten philosophischen Denker der DDR für die Nachwelt zu bewahren; er starb 2007.
Bis in ihre letzten Lebenstage äußerst agil, wurde nun auch Jutta Seidel jäh aus dem Kreis ihrer Kinder, Enkel, Freunde, Schüler und Kollegen gerissen. Sie werden ihrer am 1. April in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen gedenken (11 Uhr, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig).