Lasst es laufen, das Räuberrad!
Rund um die Volksbühne fand eine »Prozession« statt, eine Mischung aus Protest und Trauerfeier
Immerhin, der »Faust« am Abend ist ausverkauft. Wartemarken für Restkarten, so verrät ein Schild am Eingang, gibt es ab 17 Uhr. Die Volksbühne ist längst kein anarchistischer Haufen mehr, sondern bestens organisiert – auch dank des omnipräsenten Chefdramaturgen Carl Hegemann. Der Intendant Frank Castorf hat sich um die Leitung des Hauses noch nie viel gekümmert. Das Erfolgsmodell Volksbühne schöpft aus einer Dauerkrise, seit 25 Jahren.
Vielleicht ist es ja seine Sekretärin Frau Becker, die die Volksbühne in Wirklichkeit leitet, während Castorf sich exzessiver Dostojewski-Lektüre hingibt? Keiner weiß besser als er selbst, was er anderen verdankt, auch das gehört zum Geheimnis langer Dauer. Nach einem Interview in seinem Büro sagte er zu mir: »Hier war mal meine Toilette, die hab’ ich aber wegreißen lassen, damit Frau Becker vorn mehr Platz hat.« Das sind die heroischen Taten alternder Männer, die wahren Liebesdienste, über die viel zu selten gesprochen wird. Wer weiß, wie weit er jetzt laufen muss! Aber auch das nicht mehr lange.
Zum Glück liegt ein verfrühtes Azurblau über dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Das mindert den Ärger über den nicht eingehaltenen Zeitplan. Aber das ist nicht die Schuld der Volksbühne, schon gar nicht von Carl Hegemann, der doch irgendwie schuldbewusst auf seinem Smartphone herumtippt. Hier geht es um die große Danksagung an die Volksbühne, die man – seltsamerweise – in Form einer Beerdigung zelebrieren will. Es gibt nun mal immer Leute, die in entscheidenden Augenblicken alles in unpassende Tonlagen bringen. Jeder kennt das von Hochzeiten oder Beerdigungen – ein ganzes Leben wehrt man sich gegen falsche Gefolgschaft, aber am Ende kriegen sie einen doch und hauen einem ihre geschmacklosen Kränze und deplatzierten Sprüche auf den Sargdeckel. Schlimmer noch, sie gründen einen Verein. Hermann Hesse, der das Problem kannte, höhnte über den Verein der Steppenwölfe, der sich um ihn scharte wie eine Schafsherde.
Dauerstreitfall Räuberrad. Nach einem Entwurf des inzwischen verstorbenen Bühnenbildners Bert Neumann wurde es von Rainer Haußmann in Metall gegossen: ein Rad mit sechs Speichen und zwei Beinen, mitten aus dem Rotwelsch der Ganovensprache. Was will Dercon denn damit? Vorsicht, Brandstifter?! Ja, Frank Castorf, der Sohn des – auch zu DDR-Zeiten – privaten Eisenhändlers Castorf aus dem Prenzlau
er Berg, kommt aus dem Bauch von Berlin, von Ost-Berlin. Etwas, das es – nicht zuletzt dank Ex-KulturStaatssekretär Tim Renner, der den Berliner Osten in eine Art urbanen Ballermann verwandelte – inzwischen nicht mehr gibt. Berlins schmutzigen Osten muss man heute in den Vorstädten von Leipzig oder mehr noch in Chemnitz suchen. In Berlin aber wird nur noch etwas verkauft, das wie Spaß aussieht, aber bloßer Ersatzstoff ist.
Also zum Glück scheint die Sonne, als die traurige Prozession end- lich mit halbstündiger Verspätung auf dem Volksbühnenvorplatz anlangt. Angekündigt war unter der Überschrift »Danke. Eine Stadt ehrt ein Theater« eine Mischung aus Trauerfeier und Protest. Die Devotionalienhändler sind schon vor der angekündigten »Prozession« da, die vom Prater zur Volksbühne führte, ein fliegender Blumenhändler auch. Selbstverständlich eine halbe Hundertschaft Polizei, denn es geht das Gerücht, dass heute die Volksbühne besetzt werden soll. Dann nähert sich der Zug, den man hört, bevor man ihn sieht. Eine Trompete bläst Friedhofsmusik über den Vorplatz, etwa dreißig meist jüngere Darsteller ihrer selbst tragen Kränze und Plakate. Es sieht aus wie am 1. Mai 1989 nicht unweit von hier. Carl Hegemann atmet sichtlich auf, die ausverkaufte »Faust«-Vorstellung ist nicht in Gefahr, diese Statisten hier besetzen nicht mal einen freien Studienplatz in Sozialkunde, geschweige denn ein Theater.
Und wo ist, wie angekündigt, »die Stadt«? Interessiert sich offenbar für andere Dinge. Nun ja, auch Frank Castorf, Christoph Marthaler und Herbert Fritsch samt Schauspielern sind für die kommende Spielzeit längst verplant – an anderen Häusern. Die Trauergemeinde singt trotzig laut die »Internationale«, man ruft »Danke!« und auch mal ein verwirrendes »Apotheose!«, dann erklingt – allerdings sehr dünnstimmig – das legendäre »Danke«-Lied aus Marthalers Inszenierung »Murx den Europäer!«. Das war’s dann schon.
Carl Hegemann fühlt sich bemüht, zu den ihn umstehenden Freunden und Bekannten etwas Aufmunterndes zu sagen: »Jeder Protest beginnt klein.« Na ja, das hier sieht eher nach peinlichem Versickern aus, einem unnötig hinausgezögerten Ende, an dem ohnehin keiner mehr zweifelt. Wo bleibt die prominente Unterstützung, die man sich erhofft hatte? Namen von Gysi bis Lederer wurden im Vorfeld geraunt. Aber die Sonne scheint, da hat der Mensch, der nicht muss, halt was anderes vor.
Bleibt der große Streit um die Insignien des Ruhms. Das Räuberrad ist als Reliquie heiß umkämpft. Es steht groß und metallen auf dem Rasen des Vorplatzes und hätte mal wieder etwas Rostschutz verdient. Der »Tagesspiegel« veröffentlicht fast täglich Schlachtrufe aus dem Geist des Kollektivismus: Das Räuberrad gehört uns allen! Design ist alles und Marken sind Gold wert, das wissen die notorischen Privatisierer am besten. Als würde nicht jede neue Intendanten-Ära mit einem neuen Logo beginnen! Dercon hat bestimmt längst eine Werbeagentur damit beauftragt, den Geist des neuen Berlin aus der Produktgalerie der Kulturindustrie ins Symbol zu bringen. Man darf darauf wetten, dass der Global Player uns etwas unverfänglich-Kämpferisches vorsetzen wird. Im Stile von: Seid weltoffen, mutig und tolerant! Aber, bei Castorf und Hegemann fand die Toleranz immer jene intelligenzfördernden Grenzen, die uns nun fehlen werden. Während etwa der »Tagesspiegel« paradoxerweise gegen die »linke Ideologie« der Räuberrad-Privatisierer polemisiert, war Castorf immer schon der tückisch mit reaktionären Machtlogiken spielende Großstadtpartisan, der aus Curzio Malapartes »Technik des Staatsstreiches« subversive Funken zu schlagen wusste. Es wird nun künftig sehr viel langweiliger, weil ausrechenbarer werden.
Wohin also mit dem Räuberrad? Gilbert Keith Chesterton schrieb mit »Das fliegende Wirtshaus« einst die (fiktive) Geschichte des Kneipenverbots in England. Sämtliche Wirtshausschilder wurden eingezogen. Aber eines überlebte dennoch, und dank eines vergessenen Dekrets war es dann sogar geschützt. So zogen die Trinker immer dem wandernden Wirtshausschild hinterher – in seinem Schatten waren sie sicher. Also nehmt es mit, das Räuberrad, es kann ja sogar allein laufen!
Der Berliner Osten wurde in eine Art urbanen Ballermann verwandelt. Das Schmutzige muss man heute in den Vorstädten von Leipzig oder Chemnitz suchen. In Berlin aber wird nur noch etwas verkauft, das wie Spaß aussieht, aber bloßer Ersatzstoff ist.