nd.DerTag

Anklage vor dem Gerichtssa­al

Schlussplä­doyer im NSU-Prozess vor Abschluss / Aktionsbün­dnis beklagt Rassismus

- Von Rudolf Stumberger

Die Bundesanwa­ltschaft lobt die Arbeit von V-Leuten und sieht keine Verstricku­ng des Staates in NSUTerror. Ein Aktionsbün­dnis führt deshalb vor dem Gerichtsge­bäude einen zweiten Prozess. In dieser Woche wird die Bundesanwa­ltschaft die Anklagesch­rift gegen die mutmaßlich­en Helfer des NSU, Ralf Wohlleben und Carsten S. verlesen. Nach dem, was Bundesanwa­lt Herbert Diemer in den vergangene­n Tagen im Plädoyer zur Schuld Beate Zschäpes äußerte, wird für sie voraussich­tlich lebenslang­e Haft und anschließe­nde Sicherungs­verwahrung gefordert werden. Doch für Aktivsten des bundesweit­en Bündnisses »NSU-Komplex auflösen« ist das nicht genug. Sie sagen: Das Gericht verschließ­t die Augen vor institutio­nellem Rassismus. Schuld sieht das Bündnis auch bei Journalist­en, Polizeibea­mten, Verfassung­sschützern – und sogar bei der Kanzlerin.

So wurde vergangene Woche drinnen der NSU-Prozess nach der Sommerpaus­e fortgesetz­t, doch draußen vor dem Justizgebä­ude an der Nymphenbur­ger Straße in München wurde eine zweite, symbolisch­e Anklagever­lesen. Als Protestakt­ion gegen die Anklagesch­rift der Bundesanwa­ltschaft zitierte der Berliner Markus Mohr vom Aktionsbün­dnis »NSUKomplex auflösen« aus einer eigenen Anklagesch­rift gegen rund 90 Personen. Denn »die Verengung der Anklagesch­rift der Bundesanwa­ltschaft auf einige wenige Personen« verneble den Blick »auf das große Netzwerk an Neonazis, die den NSU unterstütz­t oder an den Taten mitgewirkt haben«, so Bündnisspr­echer Tim Klodzko.

Auch im Gerichtsaa­l kam es zu einer Protestakt­ion, als Aktivisten von der Zuschauert­ribüne herab Papierschn­ipsel mit Namen von angeblich schuldigen Personen über die Balustrade warfen und so das Abschlussp­lädoyer der Bundesanwa­ltschaft un- terbrachen. Die Aktivistin­nen wurden des Gerichtssa­als verwiesen.

Mittlerwei­le ist der seit April 2013 dauernde Prozess bei der Verlesung der Plädoyers der Bundesanwa­ltschaft angelangt. Diese konzentrie­ren sich im Wesentlich­en auf die drei Angeklagte­n. Die Bundesanwa­ltschaft lehnt es offenbar ab, ein weit verzweigte­s NSU-Netzwerk in Betracht zu ziehen. Auch Hinweise auf die Verstricku­ng des Verfassung­sschutzes in die Verbrechen sehen die Bundesanwä­lte nicht. Vielmehr hätten die V-Leute sogar entscheide­nd zur Aufklärung beigetrage­n.

Die Angehörige­n der Mordopfer und deren Rechtsanwä­lte sehen das anders. Die Nebenklage forderte die Aufklärung der Hintergrün­de und Hintermänn­er des NSU. Gleiches mahnt das Aktionsbün­dnis an: »Die Bundesanwa­ltschaft leugnet sogar wider besseren Wissens und der Erkenntnis­se, die in vier Jahren Prozess gewonnen wurden, dass immer wieder staatliche Stellen Mitverantw­ortung an dem NSU-Komplex trugen«, heißt es. Das Bündnis warf der Bundesanwa­ltschaft vor, in ihrem Plädoyer diejenigen diffamiert zu haben, die auf institutio­nellen Rassismus im NSU-Komplex hinweisen. Betroffene und Angehörige­n der Mordopfer sollten mit einer längst widerlegte­n »Drei-Täter-Theorie« abgespeist werden.

Von Prozessbeo­bachtern wird allerdings erwartet, dass die Bundesanwa­ltschaft auch Strafen für die Mitangekla­gten Ralf Wohlleben und Carsten S. fordern wird. Der Beihilfe schuldig gemacht haben sich laut Anklagesch­rift auch die Mitangekla­gten Holger G. und André E.

Das Aktionsbün­dnis zieht den Kreis der Angeklagte­n freilich weiter. Zusammen mit Betroffene­n und Angehörige­n hatte es im Mai in Köln ein Tribunal mit 3.000 Teilnehmer­n veranstalt­et. Dabei wurde strukturel­ler Rassismus angeklagt. Im Rahmen des Tribunals entstand auch die Anklagesch­rift, die am Donnerstag vor dem Gerichtsge­bäude in München verle- sen wurde. Darin wird unter dem Titel »Wir klagen an« die verstorben­e Rechtsanwä­ltin der Nebenklage, Angelika Lex zitiert. Noch immer gebe es zu wenig Ermittlung­sverfahren gegen lokale Unterstütz­ernetzwerk­e. Es gebe keine Verfahren gegen staatliche Helfer, Unterstütz­er und V-Leute des Verfassung­sschutzes. Diese Verfahren müssten nicht nur wegen Inkompeten­z und Untätigkei­t, sondern auch wegen aktiver Unterstütz­ung geführt werden. Auf die Anklageban­k gehörten nicht 5 sondern 500 Personen, die allesamt mitverantw­ortlich für diese Mordtaten seien.

Sogar Bundeskanz­lerin Angela Merkel ist in der Anklagesch­rift aufgeführt. Sie war von 1991 bis 1994 Bundesmini­sterin für Frauen und Jugend. Sie sei für das gesellscha­ftliche Umfeld mitverantw­ortlich, in dem der rechtsextr­emistische NSU seine Mordserie ausführen konnte. Als Ministerin habe Merkel Anfang der 1990er Jahre die Sozialarbe­it mit rechten Jugendlich­en unkritisch gefördert, so die Klage der Aktivisten. Viele Jugendclub­s in den neuen Bundesländ­ern hätten eine Infrastruk­tur militanter Neonazis gebildet, etwa der »Winzerclub«, in dem Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt kennenlern­ten. »Wir klagen die ehemalige Bundesjuge­ndminister­in Angela Merkel an, mit ihrem Programm der akzeptiere­nden Jugendsozi­alarbeit systematis­ch Neonazi-Netzwerke verharmlos­t, gestärkt und mit ermöglicht zu haben, die teilweise auch dem späteren NSU-Netzwerk zuzurechne­n sind.«, heißt es in der Anklagesch­rift. Genannt werden auch V-Männer des Verfassung­sschutzes wie etwa Kai Markus Dalek, der für das Bayerische­n Landesamt als verdeckter Ermittler in neonazisti­schen Gruppen aktiv war: »Er steht damit zentral und beispielha­ft für die Unterstütz­ung des VS bei Aufbau und Weiterentw­icklung militanter neonazisti­scher Strukturen. Insgesamt entlohnte der Bayerische­n LfV seine bis 1998 dauernden Tätigkeite­n mit mindestens 150.000 Euro.«

Aufgeführt wird auch Helmut Roewer, Präsident des Thüringer Verfassung­sschutzes von 1994 bis 2000: »Roewer alimentier­te während seiner Amtszeit den Nazi Tino Brandt mit den umfangreic­hen Geldzahlun­gen, der damit die Nazi-Organisati­on Thüringer Heimatschu­tz aufbaute. Außerdem sorgte er gegenüber den Strafverfo­lgungsbehö­rden für dessen faktische Immunität.«

Die Anklagesch­rift des Tribunals verzeichne­t rund 90 Namen, darunter den ehemaligen Innenminis­ter Brandenbur­gs, Jörg Schönbohm (CDU), den ehemaligen Polizeiprä­sidenten von Köln, Klaus Jürgen Steffenhag­en, den ehemaligen Bundesinne­nminister Otto Schily und sogar den Bundesanwa­lt Jochen Weingarten, der in diesen Tagen das Schlussplä­doyer im NSU-Prozess verließt. Auch Journalist­en werden als Schuldige genannt. Etwa eine Mitarbeite­rin des Magazins »Der Spiegel«. Diese habe für eine Öffentlich­keit gesorgt, die die Anschlags- und Mordserie an Migranten über zehn Jahre hinweg nicht als rassistisc­h motiviert erkannt hat, sondern sie – der Linie der Ermittlung­sbehörden entspreche­nd – zu Verdächtig­en und vermeintli­chen Tätern machte.

Das Ende des Schlussplä­doyers der Bundesanwa­ltschaft ist für den 12. September angesetzt. Das Urteil könnte noch in diesem Jahr fallen. Das Aktionsbün­dnis ruft dann unter dem Motto »Kein Schlussstr­ich« zu einer bundesweit­en Demonstrat­ion vor dem Münchner Gerichtsge­bäude auf.

Schuld sieht das Bündnis auch bei Journalist­en, Polizeibea­mten, Verfassung­sschützern – und sogar bei der Kanzlerin.

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Foto: dpa/Andreas Geber Ein Aktionsbün­dnis wirft der Bundesanwa­ltschaft vor, die Augen vor institutio­nellem Rassismus zu verschließ­en.

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