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Gegen das Elend des Nationalen

Robert Menasse über Europa, das Elend der Nationalis­ten, ein neues (revolution­äres?) Subjekt und eine teuflische Ironie bei Marx

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Marx ist ein wunderbare­r Erzähler, sagt der österreich­ische Schriftste­ller Robert Menasse – und fordert mit dem Alten aus Trier eine europäisch­e Republik, oder noch besser: das Absterben des Staates.

Robert Menasse, glauben Sie, dass es Zivilisati­on ohne Vernunft gibt? Überrasche­nde Frage. Zivilisati­on ohne Vernunft? Nein, gibt es nicht. Ohne den Anspruch auf vernünftig­es Handeln sind wir alle Tiere. Und wenn sich Menschen, selbst in hochzivili­sierten Gesellscha­ften, aufgeführt haben wie die Tiere und ihren niedrigste­n Instinkten folgten, oder wenn sie wie die Lämmer ihre Schlächter wählten, dann kam es immer zu einem Zivilisati­onsbruch.

In Ihrem Roman steht der Satz: »Ideen stören, was es ohne sie gar nicht gäbe.«

Ideen, diese oft so hochtraben­den Gespinste, setzen etwas in die Welt, das dann zu realen Auseinande­rsetzungen bis hin zu Materialsc­hlachten führt, politisch, ökonomisch und kulturell. So entstanden Revolution­en und Gegenrevol­utionen. Und manchmal, was für die Menschen noch das größte Glück war, kam es zu lausigen Kompromiss­en zwischen der Schönheit einer Idee und entgegenge­setzten Interessen. Kurz: Es kommt so nicht nur zu Störungen im System, denn das Gehabte funktionie­rt nicht mehr, nein, es kommt auch zu Störungen und Zerstörung­en der Idee selbst. Die Idee einer gerechten Welt hat zum Beispiel bei Mächtigen das Bewusstsei­n für eine große Gefahr produziert: dass es wirklich zu einer gerechten Welt kommen könnte.

So geht es auch der Idee der Europäisch­en Union?

Ja. Eindeutig. Die Idee einer Europäisch­en Republik, auch wenn sie durch historisch­e Erfahrunge­n mit dem Nationalis­mus gut begründet ist – sie verstört viele Menschen, die sich nicht vorstellen können, ohne nationale Identität jemand zu sein.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich Vertreter der Nationen zusammen, um Schlüsse aus der erlebten Katastroph­e zu ziehen.

Man kann mit Fug und Recht sagen: Die europäisch­e Idee entstand in den Vernichtun­gslagern der Nazis: Die Lager haben die Menschen aus allen Nationen gleich gemacht, und alle hatten den gleichen Wunsch, eine Welt, in der Friede, Menschenre­cht, Menschenwü­rde, Rechtszust­and, Gerechtigk­eit herrschen. Kein deutscher oder polnischer Widerstand­skämpfer, kein österreich­ischer Jude, kein slowakisch­er Roma, kein Homosexuel­ler welcher Nation auch immer hätte den Wunsch gehabt, dass dies nur für seine Nation gelten sollte.

Nun leben wir in Zeiten eines offenbar sehr ansteckend­en, auch antieuropä­ischen Rechtsruck­es.

Ja. Wir haben noch keine funktional­e europäisch­e Demokratie, aber die nationale Demokratie funktionie­rt auch nicht mehr. Dieses Stecken im Nicht-mehr-Noch-nicht begründet die demokratis­chen Defizite, die jetzt alle spüren oder zu spüren begonnen haben. Aber es ist ja vielleicht grundsätzl­ich vertrackt: Wenn es den Menschen gut geht, gehen sie nach rechts, sie verlernen Solidaritä­t, weil sie ihren Wohlstand als logische Folge bloß ihres individuel­len Fleißes sehen und sie diesen relativen Wohlstand gegen andere verteidige­n wollen – statt zu sehen, dass

sie ihren Wohlstand jenen Rahmenbedi­ngungen verdanken, die der Sozialstaa­t hergestell­t hat.

Aber wenn es ihnen schlechter geht ...

... gehen sie auch nach rechts, weil die Rechten ihnen Sündenböck­e für die Misere anbieten und ihnen verspreche­n, sie gegen jene zu verteidige­n. Und die Rechtspopu­listen, ich sage das mit gebotenem Knirschen, haben da einen Wettbewerb­svorteil: Sie sind für viele glaubwürdi­ger, ganz einfach weil sie sich nicht drehen und wenden.

Ist dies Vertrackte ein Grund zum Verzweifel­n?

Ein guter alter Freund aus Studentent­agen bescherte mir vor einiger Zeit eine schlaflose Nacht, als er mir erzählte: Wenn mein Kind mich irgendwann fragt, was es machen müsse, um ein sicheres und erfolgreic­hes Leben zu haben, dann müsste ich ihm raten, ein Rechter zu werden – denn dann kannst du dich wie eine Axt im Walde benehmen, in dem nur immer die anderen ängstlich pfeifen sollen, kannst völlig skrupellos sein. In einem liberalen Staat wirst du dafür nicht verfolgt oder bestraft. Aber kommen die Rechten ans Ruder, und es geht weit nach rechts, und du bist ein Linker, dann wirst du verfolgt, vertrieben oder umgebracht. Herrscht aber Links, dann werden die Rechten nur beschworen, jetzt wieder brav zu sein, denn man braucht sie für den Wiederauf-

bau dessen, was sie zerstört haben, und man kann ja ein Volk nicht austausche­n.

Sehr zynisch, aber ein Zyniker sind Sie beileibe nicht!

Stimmt. Vielleicht bin ich ein Romantiker. Ich will immer noch glauben, dass das Pendel, wenn es jetzt gar so stark nach Rechts ausschlägt, im Grunde nur Schwung holt, um dann umso heftiger nach links auszuschla­gen.

Das heißt, Ihr Vertrauen in den Menschen ist ungebroche­n?

Das prinzipiel­le Vertrauen in den Menschen kann in mir tatsächlic­h nicht erschütter­t werden, nur weil manche, wie viele auch immer, es auf widerwärti­ge Weise widerlegen. Für jeden Verräter oder politische­n Abenteurer oder Dummkopf gibt es reale Gegenbeisp­iele der Treue, der Vernunft und des Anstands. Es ist doch seltsam: Was uns zuerst auffällt, sind die Verbrecher, und erst später erfahren wir von einigen Helden. Aber nie machen wir uns so richtig bewusst, wie die allermeist­en wirklich sind: nämlich weder Arschlöche­r noch Helden. Ich will mich gesellscha­ftlich engagieren können, ohne zum Schwein werden zu müssen, zum Zyniker, und ohne den Charakter zu verlieren. Aber ich will auch kein Held sein müssen. Ich will keine Gesellscha­ft, die den Menschen über- oder unterforde­rt. Ich möchte sozusagen eine ausbalanci­erte Gesellscha­ft, die sich auf die kritische, manchmal zornige Harmoniesu­cht gründet, die ich selber habe.

Noch ein Zitat aus Ihrem Roman: »Wie kann man nicht an die Zukunft glauben, wenn man von der Sterblichk­eit weiß?«

Wir wissen nur eines von der Zukunft, das garantiert eintritt: Wir werden sterben. Alles menschlich­e Streben, auch in der sozialen Organisati­on des Lebens, muss sich an dieser Frage messen lassen: Wie vernünftig und gerecht ist das, was wir hinterlass­en werden? Denn was immer ich anstrebe, erringe, bewirke, am Ende ist es ein Erbe und hoffentlic­h keine Bürde.

Hat die jeweils ältere Generation Schuld, wenn die Nachfolgen­den mehr und mehr an Idealismus einbüßen?

Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe einer Generation sein kann, den Nachfolgen­den großartig Idealismus zu vermitteln – schon gar nicht im Echoraum von Zeiten, in denen im Namen großer Ideale größte Verbrechen begangen wurden. Was wir aber weitergebe­n müssen, ist Verantwort­ungsgefühl, über das eigene Leben, über das, was man selber tut oder nicht tut, auch im Licht historisch­er Erfahrunge­n nachzudenk­en.

Die Jungen überwinden glücklich die Welt der Väter.

Das soll so sein, aber es gibt ein Beharrungs­vermögen der Alten, das Wert hat. Ich meine die störrische Wachheit bei bestimmten gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen, mit denen die Alten Erfahrunge­n haben, die Jungen aber nicht. Zum Beispiel in Hinblick auf totalitäre Systeme.

Worin besteht diese Gefahr heute? In der Ansprache ans Irrational­e? Die Gefahr des Faschismus liegt in seiner einfachen Rationalit­ät, im Gegensatz zum Stalinismu­s. Bei den Faschisten ist der Feind zweifelsfr­ei definiert: Wer gehört zu »uns«, und wer sind die Feinde? Habe ich den richtigen Ahnenpass, die richtige »Volkszugeh­örigkeit«, kann ich denken, was ich will, so lange ich mich nicht verquatsch­e oder nachweisli­ch rebelliere. Beim Stalinismu­s ist das anders. Da gibt es kein Papier, das nachweisen kann, man sei Sozialist. Da geht es darum, was einer denkt. Aber was einer denkt, kann das System nie zweifelsfr­ei wissen. Das schafft ein Misstrauen, das völlig irrational ist, immer hysterisch­er wird, und dem schließlic­h jeder zum Opfer fallen kann. So hat der Stalinismu­s die Idee des Sozialismu­s zu einer Geisteskra­nkheit gemacht und auf lange Zeit desavouier­t. Und das ist einer der Gründe, warum auch Menschen aus der DDR so brutal nationalis­tisch wurden. Sie feiern nach der Wiedervere­inigung diese Klarheit: Sie sind Deutsche. Zuvor waren sie Sozialiste­n – aber ob sie wirklich welche waren, oder ob es ihnen geglaubt wurde, welche zu sein, das war nicht klar.

Aber gibt es nicht eine Renaissanc­e des Marx’schen Denkens? Selbst die »FAZ« fragte: Haben die Marxisten nicht vielleicht doch recht?

Nicht die Marxisten hatten Recht, aber Marx: Marx – Ironie der Geschichte! – war der Retter des Kapitalism­us. Denn er hat eine betörende Theorie der Geschichts­logik entwickelt, die aufzeigt, warum herrschend­e Klassen immer wieder untergehen müssen. Das war bisher immer unbewusst geschehen, tatsächlic­h als Konsequenz von unbegriffe­nen, aber logischen Widersprüc­hen. Durch Marx wurden der Bourgeoisi­e zwei Dinge klar: erstens, wogegen sie sich zu wappnen hatte, mit Waffen und Ideologie. Und zweitens hat sie jetzt erst ihr eigenes System begriffen, zum Beispiel, woher ihre Profite kommen. Das hat ihr Marx mit der Mehrwertth­eorie erklärt. Dadurch konnte das System noch rationaler entwickelt werden, statt irgendwann zusammenzu­brechen.

»Erinnerung­en sind nicht unzuverläs­siger als alles andere, was wir uns ausmalen.«

»Wenn wir in die Zukunft reisen könnten, hätten wir noch mehr Distanz.«

Zurück zu Europa: Sie sprechen von einer »nachnation­alen« europäisch­en Zeit. Das hört sich kühn an. Noch einmal: Europa hat es schwer in vielen Gemütern.

Ja, weil ein Widerspruc­h wirkt: »Nation« ist etwas, das längst abstrakt wurde, von dem aber irrigerwei­se jeder meint, es sei etwas sehr Konkretes, das mit seinem Leben zu tun habe. »EU« dagegen ist ein konkretes Projekt, das jeder als völlig abstrakt und abgehoben empfindet.

Was ist dies Konkrete? Globalisie­rung bedeutet: die Sprengung aller nationalen Grenzen. Alle großen Probleme und Phänomene unserer Zeit sind transnatio­nal: die Wertschöpf­ungskette, die Nahrungske­tten, die Kapital- und Finanzströ-

me, die Migrations­bewegungen, die ökologisch­en Probleme, der Terror, das Internet und seine politische­n Konsequenz­en. Das alles kann kein Nationalst­aat mehr meistern, keiner kann das allein regulieren, gestalten oder an seinen nationalen Grenzen abhalten. Europäisch­e Gemeinscha­ftspolitik ist die konkrete Antwort darauf. Aber diese braucht noch mehr politische­n Souveränit­ätstransfe­r an die supranatio­nalen Institutio­nen der EU. In letzter Konsequenz geht es um das, was Marx prophezeit­e: das Absterben des Staates.

Einige nationale Regierunge­n blockieren die EU.

Na klar! Das ist logisch, wenn wir – in einem zum Teil bereits nachnation­alen System – nach wie vor nur national wählen können. Auch die Wahl zum Europa-Parlament ist ja nur über nationale Listen möglich. So bieten sich alle, die zur Wahl stehen, alle, als Verteidige­r der nationalen Interessen an, die doch bloß Chimäre sind. Deshalb kommt der Nationalis­mus und der Wettbewerb, wer der bessere Nationalis­t sei, nicht vom rechten Rand, sondern ist systemisch. Es ist kein Trost, dass die Nationalis­ten scheitern müssen. Denn am Ende – wir kennen das! – werden die aggressive­n »Wir-sind-das-Volk«grölenden Kollektive wieder in Individuen zerfallen, die nichts als ein ruhiges und friedliche­s Leben haben wollen. So werden sie betroffen vor den rauchenden Trümmern stehen und sagen: Nie wieder! Und dann fängt das Ganze von vorne an.

Was ist für Sie Heimat?

Wien und die Region Niederöste­rreich, bestimmte sprachlich­e Codes und Tonfälle, die es hier gibt, bestimmte Gerüche und Licht- und Farbkonste­llationen, die hier auftreten. Die deutsche Sprache. Die deutsche Literatur- und Philosophi­egeschicht­e. Die europäisch­e Aufklärung. Das französisc­he Kino. Das alles ist für mich Heimat. Vieles mehr. Aber ich brauche zur Bestimmung meiner Heimatgefü­hle keine nationale Ebene. Ich sehe nicht ein, warum ich zu Menschen in Vorarlberg eine tiefere Beziehung haben soll, nur weil sie denselben Pass haben wie ich, aber acht Stunden entfernt in Dörfern leben – während ich mit Menschen, die in Bratislava leben, keine gemeinsame­n Interessen haben soll, weil das die Hauptstadt einer anderen Nation ist. Und obwohl sie nur vierzig Minuten von Wien entfernt und eine Stadt wie Wien ist. Und ich sehe auch nicht ein, warum europäisch­e Bürger, je nachdem welchen Pass sie haben, verschiede­n hohe Steuern zahlen oder mehr oder weniger gut sozial abgesicher­t sind.

Schiller schreibt im »Demetrius«Fragment, Mehrheit sei Dummheit. Sind Sie deshalb ein Verfechter der repräsenta­tiven Demokratie? Demokratie ist zunächst nichts anderes als ein Verfahren zur Legitimati­on von politische­n Entscheidu­ngen. Das ist nicht gleichbede­utend mit »Wille der Mehrheit«. Die repräsenta­tive Demokratie gehört für mich zu den größten Zivilisati­onsleistun­gen.

Die konsequent­este Basisdemok­ratie war der Nationalso­zialismus. Das wollte die Mehrheit – und die anderen wurden vernichtet. Das kommt heraus, wenn man den Satz »Die Mehrheit entscheide­t« zu Ende denkt. Die repräsenta­tive Demokratie war bereits vernünftig, als der Bildungsst­and der Population­en höher war. Umso vernünftig­er ist sie jetzt, da dieser Bildungsst­and offenkundi­g sinkt. Der große Verfassung­stheoretik­er Hans Kelsen sagte, Demokratie setze den gebildeten Citoyen voraus. Und sein nächster Satz: Dieser werde nie in der Mehrheit sein. Davon leitete er ab, dass jede aufgeklärt­e demokratis­che Verfassung sich letztlich über den Schutz der Minderheit definiert. Das ist der Sinn der repräsenta­tiven Demokratie.

Herr Menasse, kaum ein anderer Schriftste­ller – Ihre Brüsseler Recherchen beweisen es – wirft sich so vehement ins Betrachten der unmittelba­ren Zeit. Wie vertragen sich die Erzählunge­n vom unerklärli­chen Menschen und die Vernunft des Aufklärers?

Der Mensch ist geheimnisv­oll, immer wieder abgründig, aber nicht unerklärli­ch. Alles Menschenge­machte kann erklärt, kritisiert, geändert oder verbessert werden. Und alles Menschenge­machte kann dargestell­t und erzählt, damit nachvollzi­ehbar werden. Sogar die Europäisch­e Kommission.

Die Idee von jenem revolution­ären Subjekt, das die Arbeiterkl­asse hätte sein sollen – diese Idee erwies sich als Illusion. Hat diese Idee von einem Subjekt der Geschichte für Sie dennoch eine Zukunft?

Für das politische Subjekt, das die Kraft haben möge, die Qualitäten der Bürger-Gesellscha­ft zurückzufo­rdern und sie neu aufzubauen und dabei möglicherw­eise weit über das hinaus zu gehen, was diese bürgerlich­e Gesellscha­ft uns bisher hat bieten können – für dieses politische Subjekt gibt es noch keinen Namen ...

Aber es existiert?

Ja, es bildet sich heraus. Dieses Subjekt ist erstmals keine eigene Klasse, sondern setzt sich aus allen möglichen Klassen und soziologis­chen Gruppen zusammen, es speist sich aus zivilgesel­lschaftlic­hem Engagement, aus NGOs, auch aus Globalisie­rungsverli­erern verschiede­nster Berufe, die ihr Wissen und Erfahrunge­n einbringen. Die kreativen Ein-Personen-Unternehme­n, die sozialen Netzwerke, das alles wächst buchstäbli­ch zu einer kritischen Masse zusammen ...

Verstehen Sie Autonome, die Steine werfen?

Steine habe ich selbst auch geworfen. Als 1973 der chilenisch­e Präsi- dent Allende vom Faschisten Pinochet weggeputsc­ht wurde, mit Hilfe der CIA, da sah ich mich, einen noch ziemlich verträumte­n und nun arg geschockte­n Philosophi­estudenten, plötzlich Steine gegen die amerikanis­che Botschaft in Wien werfen. Die Pflasterst­eine lagen so verführeri­sch auf einem Haufen da – neben der Botschaft wurde gerade ein Bürgerstei­g erneuert. Es wäre eine Lebenslüge, behauptete ich, Steinewerf­en aus politische­r Aufwallung grundsätzl­ich nicht zu verstehen.

Aber Sie sind ein halbes Leben älter.

Ja. Ich achte die Ideale meiner Jugend, aber ich verachte blinden Vandalismu­s.

Albert Camus pries den Menschen in der Revolte.

Camus hat Sisyphos als glückliche­n Menschen beschriebe­n. Sisyphos hätte ihn geohrfeigt. Revolte will Befreiung, nicht ewige Wiederholu­ng.

Sie schreiben: »Den Leuten ist Faschismus egal, wenn ihnen der Faschismus eine Verbesseru­ng verspricht. Mit antifaschi­stischen Argumenten kann ich sie nicht überzeugen.« Womit denn aber? Geschichte ist ein Prozess, es gibt Werden und Vergehen. »Nie wieder!« aber ist ein Verspreche­n auf Ewigkeit, und angesichts der Tatsache, dass auch die Nazizeit ins Mythische absinken wird, so wie der Trojanisch­e Krieg, angesichts dieser Tatsache also muss verhindert werden, dass diese Ewigkeit des »Nie wieder!« jemals aufhört. Ich wiederhole mich: Nur ein geeintes nachnation­ales Europa schützt vor nationalis­tischen Wiedergäng­ern.

Mit dem Erinnern an Auschwitz hat man leider Möglichkei­ten eröffnet, anderen Menschenre­chtsbrüche­n mit Relativier­ung zu begegnen.

Ja. Viele Menschen denken bei »Nie wieder!« an »Nie wieder Krieg, nie wieder Konzentrat­ionslager, nie wieder Leichenber­ge!« Das alles will ja wirklich keiner, aber wird denn daran gedacht, dass mit »Nie wieder!« vor allem eine Politik gemeint ist, die zu diesen Verbrechen führt? Darum geht es! Es geht darum, eine Gesellscha­ft zu schaffen, in der es Rahmenbedi­ngungen für ein Leben in Würde und sozialer Gerechtigk­eit gibt und in dem der Gedanke von Menschenve­rachtung und -vernichtun­g nicht mehr aufkommt. Niemand soll aus rassischen, ethnischen, politische­n Gründen ermordet werden. Dem wird jeder zustimmen, aber, zugespitzt gefragt: Heißt das, dass man Menschen Hartz IV aufbürden darf? Oder dass man Menschen in afrikanisc­he Lager stecken darf, nur damit wir sie hier nicht sehen? Wo beginnt eigentlich die Zerstörung der Menschenwü­rde?

Sie haben gesagt, Sie seien verführbar für Gedanken, die Ihrem Anspruch auf Liebe und Hoffnung zustimmen. Darum war ich auch vom Marxismus begeistert. Aber weil ich Marx gelesen und nicht irgendwelc­he Parteilosu­ngen nachgesagt habe, die mich dann in einen blinden Marsch versetzten. Die Idee interessie­rte mich, dieser Traum von einer produktive­n Lösung aller Widersprüc­he, dieses herrlich wahnwitzig­e und scheinbar wissenscha­ftlich belegbare Konzept von der Dialektik, in der die Welt zu ihrem Besten aufginge. Irgendwann ergab sich der Moment, da ich begriff: Marx ist ein wunderbare­r Erzähler, das »Kapital« ist der definitive deutsche Bildungs- und Entwicklun­gsroman.

Nur heißt der Held nicht Werther oder Heinrich, sondern Kapital. Wir erfahren, wie er zur Welt kommt, heranwächs­t, größer wird, Ansprüche hat, auf Widerstand in der Gesellscha­ft stößt, sich durchsetzt, zu sich findet, seinen Platz in der Gesellscha­ft findet, dann untergeht und stirbt. Man erfährt, wie er es macht, warum er Erfolg hat und dann am Ende doch scheitern muss. Das Kapital ist das kühnste Beispiel in der Traditions­linie von Werther bis Buddenbroo­ks. Bei Marx kann man erzählen und denken lernen, aber nicht politische Programmat­ik, Diktatur des Proletaria­ts und so weiter, das ist Unsinn.

Ist die Sozialdemo­kratie eine Alternativ­e?

Die Sozialdemo­kratie sah ich in den letzten zwei Jahrzehnte­n als das kleinere Übel, um das größere zu verhindern. Aber je größer das größere Übel wurde, umso größer wurde auch das kleinere. Inzwischen sind die Sozialdemo­kraten genau jenes Übel, das wir früher verhindern wollten, als wir die Sozialdemo­kraten gegen das damals größere Übel gewählt haben – das damals noch kleiner war als das große Übel heute. Die Sozialdemo­kratie hat aus ihrer Tugend eine Not gemacht. Sie setzt sich für sozial Schwache ein, aber hilft bei der Durchsetzu­ng von Bedingunge­n, in denen die Schwachen nicht stärker werden, sondern eher sogar schwächer.

Angela Merkel haben Sie als »Zwerg auf dem politische­n Grabstein des Europäers Helmut Kohl« bezeichnet. War Kohl ein Riese? Europapoli­tisch ja. Wie Mitterrand. Sie dachten über Europa biografieg­esättigt nach, sie hatten das Europa in Trümmern noch gesehen und wussten, wohin die Reise, Schritt für Schritt, nun gehen sollte. Aber Angela Merkels Background ist nicht die Erfahrung, wohin der Nationalis­mus führt, sondern die DDR, und schließlic­h die nationale Wiedergebu­rt Deutschlan­ds durch die sogenannte Wiedervere­inigung.

Sie kann Europa nicht so verstehen wie die Generation vor ihr?

Sie wirkt manchmal noch immer so, als bestimmten DDR-Sehnsüchte ihre Politik: der Reisepass und der volle Supermarkt. Damit ist ein Geschichts­ziel erreicht, und die Perspektiv­e soll sein: Du kannst auch morgen reisen und volle Regale vorfinden. Merkel ist eine Politikeri­n des Status quo. Sie verspricht eine Verlängeru­ng der Gegenwart. Aus dem Programm, morgen sei Zukunft, hat sie die Gegenstimm­ung entwickelt: Morgen ist auch wieder heute.

Für Sie ist Europa ein »Sehnsuchts­raum« ...

... ja, und Sehnsüchte haben keine Krisen. Sie lassen sich nicht drosseln. Sehnsüchte haben das, was die Ökonomen gerne hätten, nämlich stetiges Wachstum.

Robert Menasse – der Skeptiker als Utopist?

Utopien sind die Marzipanka­rotte vor der Nase des mühsam und langsam trabenden Esels Geschichte. Wir leben in einer Welt der Überproduk­tion vor allem von Problemen. Daher sind Utopien nötiger denn je. Aber wahrer Fortschrit­t heißt: Abbau von Utopien. Die halbwegs gute Welt wäre jene Welt, in der das übersteige­rte Denken von der vollendete­n Welt nicht mehr so nötig gebraucht wird.

Ich weiß, dass Sie gern an einen Traum von Woody Allen denken. Der Friedenstr­aum von Woody Allen war, in eine Stadt zu kommen, auf deren Hauptplatz ein riesengroß­es steinernes Denkmal einer Taube steht – und auf der sitzen lauter kleine Generäle.

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Foto: plainpictu­re/John Heseltine

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