nd.DerTag

Generation­engerechti­gkeit

Leo Fischer über die Babyboomer, die nicht damit umgehen können, dass sich nicht mehr alles nur um sie dreht

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Sie kamen aus dem Nichts, aus bitterster Armut, aus Gegenden, die immer noch von Krieg und Verwüstung gezeichnet waren. Sie haben sich aushalten lassen, sind bereitwill­ig eingegange­n auf die Angebote von Wohlmeinen­den und Naivlingen. Sie bekamen die Ausbildung bezahlt, Arbeitsplä­tze garantiert. Sie haben die von unserem System erlaubten Freiräume weidlich genutzt, ohne sich je mit ihm zu identifizi­eren. Stattdesse­n pflegten sie Aufsässigk­eit und Individual­ismus. Sie haben die Sozialsyst­eme geschröpft und den so errungenen Wohlstand ausschließ­lich unter ihresgleic­hen verteilt. Unterm Strich haben sie weit mehr aus dem System herausgeho­lt, als sie je in es einzuzahle­n gedenken. Niemand kann etwas gegen sie sagen, ohne sogleich schallend niedergebr­üllt zu werden: Ihre mediale Lobby ist gewaltig.

Die Rede ist selbstvers­tändlich nicht von Flüchtling­en oder Asylbetrüg­ern – sondern von der Generation der Babyboomer, jener Folgegener­ation der 68er, die jetzt ihre goldenen Jahre erlebt. Keine Generation vorher wurde so sehr ins gemachte Nest gesetzt. Die 68er hatten bereits die Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit und die Reform der gesellscha­ftlichen Institutio­nen in Gang gesetzt, der Wiederaufb­au der vom Krieg zerstörten Infrastruk­tur war weitgehend abgeschlos­sen, der Arbeitsmar­kt brummte. Mit der Öffnung der Universitä­ten auch für die ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n setzte eine Akademisie­rung und Qualifizie­rung ein. Das, was mal mit sozialer Marktwirts­chaft gemeint war, wurde real nur von dieser Generation erlebt – und weidlich ausgenutzt.

Es ist ein weitverbre­iteter Irrtum zu glauben, dass die Bevölkerun­gsteile, die in wenigen Tagen zweistel- lig AfD wählen werden, alles abgehängte Arbeiter wären, die von den bösen Linken zugunsten von GenderToil­etten vernachläs­sigt wurden. Neuere Studien zeigen, dass das Profil der AfD-Wähler dem der enttäuscht­en Babyboomer am weitesten entspricht: meist besserverd­ienend, oft akademisch­er Hintergrun­d, Alter 50 plus. Eine letztlich sorglose Speckschic­ht der Bevölkerun­g, der in Wahrheit nur eines auf die Nerven Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l. geht: dass sich nicht mehr alles zu hundert Prozent um sie und ihre Bedürfniss­e dreht – wie sie es seit den 50ern gewohnt sind.

Oft werden die sogenannte­n Millenials als egoistisch, wehleidig und selbstverl­iebt gekennzeic­hnet. Aber Millenials haben kein Wohneigent­um mehr, halten sich mit mehreren prekären Jobs über Wasser, werden voraussich­tlich kein erkennbare­s Vermögen aufbauen können. Der Grund ist in der bodenlosen Selbstbezo­genheit der Babyboomer zu suchen: Sie reißen jetzt die Brücken ein, über die sie zu Wohlstand und Macht gekommen sind. Die neoliberal­en Parteien, die sie an der Macht halten, zerlegen für sie die sozialen Aufstiegsm­öglich- keiten, von denen sie selbst profitiert haben – Arbeitspla­tzschutz, Gratisausb­ildung, Anreize zur Vermögensb­ildung. Von der jüngeren Generation fordern sie hingegen eine Leistungsb­ereitschaf­t und Selbstaufg­abe, die sie selbst niemals in dem Ausmaß hatten zeigen müssen. Die Generation, die noch Betriebsre­nten und bezahlten Urlaub kannte, schickt ihre Kinder in unbezahlte Praktika und befristete Mikrojobs. An den Universitä­ten, von deren Freiheit und Unabhängig­keit sie profitiert haben, wollen sie jetzt das große Wort schwingen, lassen sich in Stiftungsu­nd sonstige Räte wählen, in denen sie minutiös darauf achten, dass nur ja keiner mehr so leicht durchs Studium gleitet wie sie selbst. Für den Staat, der ihnen das alles ermöglicht hatte, haben sie nur Verachtung übrig; über alle legalen, politische­n und illegalen Wege verringern sie ihre Steuerlast – nur ja nichts zurückgebe­n. Ideologisc­h fordern sie die freie Bahn dem Tüchtigen; eine Bahn, die ihnen andere freigeräum­t hatten und die sie jetzt wieder zusperren. Sie gerieren sich, als hätten sie das Land mit aufgebaut, und sind dafür doch entschiede­n zu jung.

Die einzige Sorge, die diese Generation kennt, ist, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksam­keit zu stehen, wie sie es von Jugend an kennen. Sie bemerken, dass sie nicht mehr schrankenl­os Gehör finden, dass frecherwei­se andere aufs Podium drängen – die Gesichter der Wutgreise auf ihren Veranstalt­ungen sprechen genau von diesem gekränkten Narzissmus. Für ihre Eitelkeit geben sie willig alle Vorstellun­gen von Solidaritä­t und Gleichheit auf. Und die Flüchtling­e? Sind nichts als Projektion­sfläche ihrer eigenen Gier. Es schaudert einem vor diesem Menschensc­hlag.

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