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Vom späten Müßiggang

Seit Reinhard Schirmer in Rente ist, genießt er das Leben. Bis ihn eines Tages beim Bäcker eine Jobanzeige lockt

- Von Florian Haenes

Der Rentner Reinhard Schirmer geht vielen Hobbys nach. Erwerbstät­ig will er nicht mehr sein. Von der Politik wünscht er sich ein Grundeinko­mmen. Auch Jüngere sollen nicht arbeiten müssen. Ein letztes mal lockt ihn die Arbeitswel­t, als Reinhard Schirmer zu Fuß zum Yoga spaziert. Der 65-Jährige flaniert nun häufig. Man hebt bloß den Blick und plötzlich fallen einem Dinge ins Auge. Wie an jenem Tag die Jobanzeige. Sie klebte im Schaufenst­er einer Bäckerei. Aushilfe gesucht!

»Plötzlich hab ich überlegt«, erinnert er sich. »Fängst du wieder an?«

Schirmer hätte die Anzeige missachten können, sie einfach ignorieren und sich weiterhin der schönen Dinge erfreuen. Er ist neuerdings Rentner. Schirmer ist alleinsteh­end, lebt von 1200 Euro im Monat. Und das Geld reicht.

Denn Schirmer erhebt Sparsamkei­t zum Lebensstil. Draußen auf dem Balkon seiner Mietwohnun­g steht ein Holzkasten mit Glasscheib­e. »Ein Solarkoche­r«, sagt er – und erläutert, wie sich aus Sonnenwand­erung, Wuchshöhe des Tannenbaum­s und der Position des Nachbarhau­ses ein Zeitfenste­r am Nachmittag ergibt, in dem der Kasten aufheizt und Schirmer den Reis garen kann. Im Regal im Wohnzimmer thronen selbstgetö­pferte Teller wie Trophäen. Ein wackliges Tischchen am Fenster ist die freche Absage an Mobiliar, das mehr sein will als Buchablage.

Schirmer hatte sich in der Kargheit eingericht­et. Und trotzdem überkommt ihn der Impuls. »Wieder an die Arbeit, Reinhard!«

Wirtschaft­spsycholog­en erklären es damit, dass auch alte Menschen sich gebraucht fühlen wollen. So fliehe mancher zurück in den Job. Der Anteil erwerbstät­iger Rentner ist nach Zahlen der Agentur für Arbeit in zehn Jahren von fünf auf elf Prozent angestiege­n.

Vielleicht sind arbeitende Rentner ein neuer Trend, weil die postindust­rielle Arbeitswel­t Anerkennun­g an Leistung knüpft. Mit diesem Verspreche­n hatte ihn die Marktwirt- schaft in der Bundesrepu­blik begrüßt: dass Reinhard Schirmer hier gebraucht würde.

Es ist das Jahr 1992. 1,2 Millionen Menschen sind in den neuen Bundesländ­ern arbeitslos. Schirmer hat sich in eine Weiterbild­ungsgesell­schaft gerettet, die zwei findige Ex-Offiziere in Fürstenwal­de aus dem Nichts geschaffen haben. »Wenn ihr mit Computern umgehen lernt«, so lautet das Verspreche­n des jovialen Elektromei­sters, der den Workshop leitet, »dann werdet ihr überall gebraucht.«

Schirmer hatte seit 1973 als Elektrosig­nalmechani­ker bei der Reichsbahn gearbeitet. Nun soll er sich plötzlich neu erfinden – Metamorpho­se nach Marktlage.

Doch die meiste Zeit diktiert der Elektromei­ster nur die Richtlinie­n des Elektrohan­dwerks. Zähflüssig­e Stunden. Zur Belohnung aber erlaubt der Meister, dass sie am Computer spielen. »Das funktionie­rt wie mit Kindern«, sagt Schirmer. Er flüchtet, wenn er kann. In den Park, oder in die Kantine, wo er aus Mangel an Alternativ­en den Speiseplan studiert. Am Ende sollten sie versuchswe­ise eine Bewerbung an den Montagebet­rieb nebenan schicken. Eine Antwort erhält niemand.

Irgendwann findet Schirmer einen Job auf der Baustelle. In BerlinFrie­drichshain soll er Antennenle­itungen legen, Schutt schleppen und mit dem Presslufth­ammer die Wände aufreißen. Aber ihm fehlt die Kraft. »Ich bekam es mit der Angst zu tun und war sogar erleichter­t, als mir mein Chef nach drei Wochen kündigte.« Abermals findet er nur Arbeit auf dem Bau. In Gedanken rechnet Schirmers, wie lang 8000 DM Ersparniss­e reichen können. Ein Jahr, vielleicht zwei?

Schirmer wird schließlic­h Lagerarbei­ter. Eine Freundin erzählte von der Ausschreib­ung im Bundesarch­iv. »Es war ein Abstieg vom Facharbeit­er zum Hilfsarbei­ter«, resümiert er. Aber die Tätigkeit im Filmarchiv ist leicht, der Vertrag unbefriste­t, »und wenn ein Betrieb nicht abgewickel­t wird, dann doch das Bundesarch­iv«, sagt er sich damals. Mit dem Lieferwage­n fährt er 25 Jahre lang alte Filmbüchse­n von den Lagerhalle­n in die Büros der Historiker.

Als die Große Koalition die Rente mit 63 beschließt, steht der Entschluss fest. Am 1.1.2016 geht Schirmer in Rente. Er praktizier­t jetzt Yoga, tanzt internatio­nale Folklore – »griechisch­e Tänze, türkische und rumänische, Tänze vom Balkan«, erzählt er – er geht zur Rückenschu­le, er baut eine Gemeinscha­ftswerksta­tt auf und pflegt einen Permakultu­rgarten. Auf die Lockung der Arbeitsges­ellschaft, als er am Schaufenst­er der Bäckerei Halt machte, antwortete sein Verstand: »Zum Arbeiten hab ich keine Zeit.«

»Ich will kein Knecht mehr sein«, sagt er. Mit Unverständ­nis blickt er auf die Arbeitswel­t. »Einige Kollegen waren mit ihrem Job verheirate­t. Die haben gar nicht gemerkt, dass ihr Job nicht mehr gebraucht wird.« Er wünscht sich, dass eine künftige Bundesregi­erung ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen schafft. Anstatt aus Angst vor Arbeitslos­igkeit die Braunkohle­industrie mit Subvention­en am Leben zu erhalten, sollten Politiker endlich Visionen entwickeln.

Wäre das Grundeinko­mmen schon Wirklichke­it, hätte Schirmer die Arbeitswel­t noch früher verlassen. Heute hat er sich besonnen. Er ändert sein Leben.

Bald wird er aus der Mietwohnun­g ausziehen. Sein Name steht auf der Warteliste für ein Wohnprojek­t in Schöneiche. Junge und alte Menschen renovieren hier ein ehemaliges Rathaus. Um Geld muss sich Schirmer keine Sorgen mehr machen. Und im Wohnprojek­t wird er gebraucht.

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Foto: Uwe Steinert Sparsamer Lebensstil: Im Solarkoche­r gart Reinhard Schirmer Reis.

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