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»Wir müssen radikaler denken«

Der Sozialfors­cher Gerhard Bosch über Löhne und Renten in Ost- und Westdeutsc­hland

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Der Bundestag hat in diesem Jahr beschlosse­n, dass ab 2025 Renten in Ost- und Westdeutsc­hland gleich berechnet werden. Was halten Sie davon?

Ich finde es richtig, 35 Jahre nach der Wiedervere­inigung einheitlic­he Regeln und Bedingunge­n zu schaffen.

Die Löhne im Osten sind aber um die 20 Prozent niedriger als im Westen. Sollte man deshalb Ost-Gehälter bei der Rentenbere­chnung wie bisher aufwerten, damit die Menschen höhere Altersbezü­ge erhalten?

Wir haben in ganz Deutschlan­d ein Lohnproble­m, nämlich den enorm großen Niedrigloh­nsektor. Dieses Problem sollten wir direkt angehen anstatt zu versuchen, es über die Rentenpoli­tik für einige Menschen abzumilder­n.

In Ostdeutsch­land gibt es besonders viele Geringverd­iener. Ja. Es gibt aber auch in Norddeutsc­hland mehr Geringverd­iener als im Süden, und auch in Baden-Württember­g oder NRW gibt es Niedrigloh­nempfänger. Dieses Problem müssen wir gesamtdeut­sch anpacken.

Wie?

Der Mindestloh­n war ein erster wichtiger Schritt. Jetzt sollte die Politik die Tarifbindu­ng erhöhen. Keine Partei hat hier wirklich überzeugen­de Ideen.

Was schlagen Sie vor?

Wir müssen radikaler denken. Die Große Koalition hat mit kleinen Änderungen versucht, die Tarifbindu­ng zu erhöhen. Es ist zum Beispiel inzwischen etwas einfacher, Tarifvertr­äge für allgemeinv­erbindlich zu erklären. Das hat aber fast nichts gebracht. Die Arbeitgebe­rverbände können weiter verhindern, dass ein Tarifvertr­ag für eine ganze Branche gilt. Deshalb müssen wir über neue Wege nachdenken. Möglich wäre zum Beispiel, dass die Mindestloh­nkommissio­n mehr Rechte erhält: Wenn in einer Branche der Anteil der Niedrigloh­n-Beschäftig­ten besonders hoch ist, könnte die Kommission Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rverbände auffordern, Tarifvertr­äge zu schlie- ßen. Passiert dies innerhalb eines Jahres nicht, könnte die Kommission Tarifvertr­äge selbst erlassen.

Ein Tarifvertr­ag per Dekret: Erlaubt das Grundgeset­z das? Verfassung­srechtlich wäre das nicht unproblema­tisch, weil im Grundge-

Gerhard Bosch ist Professor für Arbeits- und Wirtschaft­ssoziologe an der Universitä­t Duisburg-Essen. Er erforscht seit vielen Jahren die Lohnentwic­klung und die Sozialsyst­eme in Deutschlan­d und Europa. Mit ihm sprach Eva Roth. setz die Tarifauton­omie festgeschr­ieben ist. Man könnte aber Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rverbänden Zeit geben, das Niedrigloh­nproblem selbst zu lösen, etwa im Einzelhand­el. Wenn ihnen das nicht gelingt, dann funktionie­rt dort die Tarifauton­omie nicht. In jedem Fall sollten wir nicht resigniere­n. Wenn wir uns in der reichen Bundesrepu­blik mit dem Mindestloh­n begnügen, ist die sozialdemo­kratische Idee am Ende. Dann haben wir uns von der Vorstellun­g verabschie­det, dass die Bürger fair am Wohlstand beteiligt werden.

In Österreich ist das Rentennive­au höher als hierzuland­e. Gibt es dort auch andere Lohnregelu­ngen?

Ja. Dort sind Beschäftig­te und Unternehme­r Zwangsmitg­lieder in den Wirtschaft­s- und Arbeitnehm­erkammern. Es gibt hierfür nur wenige Ausnahmen. Damit sind fast alle Firmen und Beschäftig­te tarifgebun­den.

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Foto: Uni Duisburg-Essen

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