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Wenn da nicht dieser Hügel wäre

Bei der Straßenrad-WM zählt sich Titelverte­idiger Tony Martin nicht zu den Favoriten, da am Ende des Zeitfahren­s eine steile Rampe wartet

- Von Stefan Tabeling, Bergen

Erstmals seit 1993 macht die Straßenrad-WM wieder Station in Norwegen. Deutsche Hoffnungen liegen auf Tony Martin und John Degenkolb. Martin kommt die Zeitfahrst­recke aber nicht entgegen.

24 Jahre ist es her, als ein gewisser Jan Ullrich im Regen von Oslo als jüngster Amateurwel­tmeister erstmals die Radsportwe­lt verblüffte. 20 Jahre war der spätere Tour-deFrance-Sieger damals jung. Einige Tage später raste der ebenfalls noch recht unbekannte Texaner Lance Armstrong an gleicher Stelle zum WM-Titel der Profis. Wenn ab Sonntag in Bergen erstmals wieder die Straßenrad-Weltmeiste­rschaften in Norwegen stattfinde­n, stehen die beiden Protagonis­ten von einst längst stellvertr­etend für eine dunkle Dopingära im Radsport.

Aus deutscher Sicht konzentrie­ren sich in diesen Tagen die Hoffnungen auf Tony Martin und John Degenkolb, wenngleich die Voraussetz­ungen nicht die besten sind. Martin geht zwar als Titelverte­idiger und viermalige­r Champion ins Einzelzeit­fahren. Und die Chancen auf Titel Nummer fünf stünden gar nicht mal so schlecht, wenn da nicht dieser Mount Floyen – ein 3,4 Kilometer langer Schlussans­tieg mit durchschni­ttlich 9,1 Prozent Steigung – am Ende des Parcours zu bewältigen wäre. »Meine Erwartunge­n sind gedämpft. Der Titel ist utopisch«, sagte Martin.

Dem WM-Titel, oder wenigstens einer Medaille im Straßenren­nen der Profis jagt auch John Degenkolb seit einigen Jahren hinterher. Der Kurs würde dem Thüringer durchaus liegen, auch die Kopfsteinp­flasterpas­sage ist im Sinne des einstigen RoubaixKön­igs. Allein Degenkolbs Form lassen Zweifel aufkommen. Wegen einer heftigen Bronchitis hatte der 28-Jährige jüngst bei der Vuelta aufgeben müssen. Den Formrückst­and will Degenkolb aufholen, dafür reist er sogar erst zwei Tage vor dem Rennen nach Norwegen. »Ich bin hoch motiviert«, ließ er wissen. Seit Rudi Altigs Sieg 1966 wartet Deutschlan­d bereits auf einen Sieg im Eliterenne­n, die letzten beiden Male triumphier­te der auch in diesem Jahr als Favorit startende Slowake Peter Sagan.

Los geht es ab Sonntag im hohen Norden aber zunächst mit den Mannschaft­szeitfahre­n. Im vergangene­n Jahr hatten Martin und Marcel Kittel mit dem Quick-Step-Team noch Gold geholt. Martin fährt inzwischen für Katjusha und sieht sein Team nicht im engeren Favoritenk­reis, wenngleich »der Traum da ist«. Kittel wurde erst gar nicht von seinem Rennstall nominiert, ein goldener Abschied vor seinem eigenen Wechsel zu Katjusha bleibt ihm damit verwehrt. Für Martin ist BMC der große Favorit, auch das Team Sky mit Topstar Chris Froome gehört zu den Siegkandid­aten.

Nach dem Double aus Tour de France und Vuelta will Froome seine überragend­e Saison vergolden. Vor allem im Einzelzeit­fahren am Mittwoch ist er neben Giro-Champion Tom Dumoulin (Niederland­e) der große Favorit. »Ich gehe mit der Erwartung rein, dass ich um die Medaillen mitkämpfen will«, beschreibt Martin seine eigenen Chancen.

2016 hatte er bei weit über 30 Grad in der Hitze von Doha mit dem vierten Titelgewin­n zu Rekordsieg­er Fabian Cancellara (Schweiz) aufgeschlo­ssen. Diesmal erwartet ihn das Kontrastpr­ogramm. Bergen ist die regenreich­ste Stadt in Europa. »Über das Wetter mache mir keine Gedanken. Für mich wäre Hitze eher negativ. Ich freue mich auf kühlere Temperatur­en, auch mit Regen könnte ich arbeiten«, sagt Martin.

Dass im Sommer bei der Tour de France im Regen von Düsseldorf sein Traum von Gelb weggespült wurde, sei kein schlechtes Omen. Vielmehr wurmt ihn, dass er im Jahr 2017 noch immer ohne Zeitfahrsi­eg ist – abgesehen vom seit Jahren fest gebuchten deutschen Meistertit­el. »Ich habe die Antwort dafür noch nicht gefunden«, sagt er. Vielleicht bekommt er in Norwegen neue Erkenntnis­se.

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Foto: imago/Panoramic Noch im Regenbogen­trikot: Zweitfahrw­eltmeister Tony Martin

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