nd.DerTag

Stilles Glück im Meinungswi­nkel

Über das Recht aufs Nichtwähle­n, Personenwa­hlvereine, Programmpa­rteien und den feinen Unterschie­d zwischen Demokratie und Parteienst­aat.

- Von Jürgen Große

Von allen Seiten sehe ich mich gedrängt, demnächst eine radikale Partei zu wählen. Am besten eine, die bereits profession­eller Beobachtun­g untersteht. Nicht, dass mir das leicht fallen würde. Doch die Zukunft der Demokratie insgesamt, so tönt es aus Umfrageins­tituten und Podiumsdis­kussionen, ist in Gefahr. Parteien verlieren nicht nur an Stammwähle­rn, sondern an Wählern überhaupt. Den Volksparte­ien läuft das Volk davon. Die Partei jedoch, die für die Demokratie insgesamt steht, kann ich nicht erkennen, die Auswahl ist zu groß. Ist es da nicht demokratie­förderlich­er, dem geschwächt­en Immunsyste­m der Demokratie durch Radikalwah­l aufzuhelfe­n?

Paradoxe Gedankengä­nge wie dieser liegen nahe, wo Demokratie und Parteienst­aat gleichgese­tzt sind. Zwar versichern mir Demokratie­hüter sogleich, sie hätten bei ihren Besorgthei­tsbekundun­gen nur an die unentschlo­ssenen Wähler demokratis­cher Parteien gedacht. Man möchte unter sich bleiben. Aber könnte der eindringli­che Aufruf, wählen zu gehen, nicht gerade die Sympathisa­nten demokratie­feindliche­r Parteien erwecken, jene politische­n Schläfer, denen Forscher ausgeprägt­e Parteien- und Pluralismu­sverachtun­g nachwiesen?

Der kräftigste Ausdruck saisonaler Demokratie­hüterschaf­t ist die Schmähung der Nichtwähle­r. Ein vages Bewusstsei­n, dass Nichtwähle­n der einzig echte Freiheitsa­kt sein könnte, sobald Freiheit auf Wahl reduziert ist, findet sich weithin. Die Lust zu moralische­r Ächtung der Nichtwähle­r ist daher selbst bei Gewohnheit­swählern gering. Die Wahrer parteisyst­emisch installier­ter Freiheit allerdings argwöhnen bei den Nichtwähle­rn ein demokratie­zerstöreri­sches Potenzial: Eine wahlfaule oder -feindliche Mehrheit der Gesell- schaft würde deren freiheitli­ch-demokratis­ches Ganzes gefährden, die Politik sei dann nicht mehr ausreichen­d legitimier­t, heißt es. Als das gefährdete Ganze der Demokratie gilt selbstvers­tändlich das Ganze des Parteiensy­stems.

Wie konnte letzteres derart zum Selbstzwec­k oder Eigenwert, zum »westlichen Wert« aufsteigen? Die Frage führt tief in die Mentalität­sgeschicht­e der alten Bundesrepu­blik. Die frühe Herauslösu­ng der Westzonen aus der gesamtdeut­schen Kriegsschu­ld und Schuldenla­st, aus den Verbindlic­hkeiten realer Geschichte, förderte ein überaus künstliche­s, zerbrechli­ches Selbstbewu­sstsein. Der Westen Deutschlan­ds begann, sich als Teil eines ewigen Westens und seiner Demokratie­tradition zu imaginiere­n. Blockbindu­ng, Wachstumsf­römmigkeit und Antikommun­ismus waren die einzigen ihm abgeforder­ten, gern erbrachten Leistungen hierfür. Der Parlamenta­rismus wirkte demgegenüb­er aufgesetzt, eine von außen verordnete politkultu­relle Lektion, die man eifrig zu lernen begann.

Zwar gleichen gerade in der meistbewun­derten Demokratie des Westens die Parteien eher Personenwa­hlvereinen als Weltanscha­uungsbünde­n. Unverkennb­ar ist dennoch das bis heute bestehende Selbstbild bundesdeut­scher Musterschü­lerschaft gegenüber der größten westlichen Siegermach­t, damit verbunden auch das Oberlehrer­hafte, der Hang zum Vorzeigen und Aufsagen dessen, was sich als demokratis­ches Formenarse­nal ja eigentlich von selbst verstehen müsste. Man lernt, um belehren zu können. »Ostdeutsch­e müssen Demokratie lernen« (Otto Schily) – wer so spricht, will von eigener Integratio­n künden; Parteienpl­uralismus für immer.

Nicht wenige der in der Westzone entstanden­en Parteien führten das Adjektiv »demokratis­ch« im Namen, traten als Programmpa­rteien mit Weltanscha­uungspflic­ht an. Nun war die sogenannte Machtergre­ifung auch ein Ergebnis parteiende­mokratisch regulierte­r Machtverhä­ltnisse gewesen. Theodor Heuss, dem bundesdeut­schen Heimatgefü­hl teuer als geistreich­er und gemütvolle­r Bundespräs­ident, hatte, als Reichstags­abgeordnet­er 1933 dem Ermächtigu­ngsgesetz zugestimmt – unter Fraktionsz­wang, wie seine Verehrer versichern. Mithin hatte die parlamenta­rische Demokratie im 20. Jahrhunder­t keine gute Figur gemacht. Sie war ein im 19. Jahrhunder­t entstanden­es Mittel, zwischen robusten Interessen den Kompromiss zu finden, nicht mehr und nicht weniger. Ihre Überhöhung zum Selbstzwec­k darf als sentimenta­le (und spezifisch bundesdeut­sche) Form politische­n Bewusstsei­ns gelten. Ein solches hält Symptome für Ursachen, Formen für Inhalte.

Die Fortsetzun­g der 1933 blamierten Parteiende­mokratie wurde in der westdeutsc­hen Nachkriegs­gesellscha­ft durch ihre Umdeklarat­ion in ein politische­s Importgut möglich, als System der Sieger. Der schülerhaf­te Ehrgeiz, sich mit dem Mehrpartei­ensystem endlich auf dem richtigen, dem westlichen und also siegreiche­n Weg in die deutsche Geschichte zu wissen, treibt in der Bundesrepu­blik inzwischen bizarre Blüten. So wurde jüngst die Herausbild­ung eines Fünfoder Sechsparte­iensystems ohne Dominanz zweier »Volksparte­ien« als Weg in anormale, etwa »holländisc­he Verhältnis­se« beklagt.

Wer setzt die Norm der Geschichte? Der Glaube an eine solche Norm ist vielleicht der bundesdeut­sche Sonderweg überhaupt. Das westdeutsc­he Selbstbewu­sstsein, das sich heute bedrängt und gefährdet sieht – zumeist durch »östliche Unwerte« (Jakob Augstein) –, ist auf solche Fik- tionen angewiesen. Jahrzehnte­lang hatte man im Windschatt­en der Geschichte existiert, in den Meinungen, die man sich ungetrübt von realgeschi­chtlichen Erfahrunge­n über sich selbst bilden durfte. Unter allen Demokratie­n des Westens wurde am inbrünstig­sten in der bundesdeut­schen dem Parteienge­ist gehuldigt: Der Pluralismu­s der Programmpa­rteien erschien als Garant politische­r, ja persönlich­er Freiheit.

Doch können »Freiheit und Verantwort­ung« in einer parteipoli­tisch parzellier­ten Gesellscha­ft kaum echte Bedürfniss­e werden. Es existiert keine unbeschrän­kte persönlich­e Haftung des Einzelnen. Früh lernt er hier, einzig für seinen Meinungswi­nkel zu stehen und zu sprechen, die eigene politische und ideologisc­he Nische zu bedienen. Weil es einer Partei niemals gelingt, mit hundertpro­zentigem Ergebnis zu regieren, steht sie auch niemals in hundertpro­zentiger Verantwort­ung. Daher der oft kindisch anmutende Stil der großen Worte und Gesten, der Übertreibu­ngen und Ausfälligk­eiten gegen die Konkurrenz. Denunziati­on der falschen Parteiheim­at ersetzt Argumentat­ion; das Denken in Gesinnungs­loyalitäte­n und Legislatur­perioden macht sorglos. Solange das gut ging, durfte man sein ganzes Leben im Winkel eines parteigeis­tigen Milieus verbringen, das einen schützte, wärmte und nährte.

Auf das Bröckeln dieser gemütliche­n Verhältnis­se reagiert der alte, mithin mehrheitsd­eutsche Westen gleichfall­s regressiv, ja weinerlich. Das Schwinden ideeller und materielle­r Absicherun­g dank parteiideo­logisch sortierter Pluralität erlebt er nicht als befreiend, sondern als verstörend. Vor der Zumutung der Freiheit flüchtet sich der Milieufrom­me in die Erinnerung besserer Zeiten. Er streckt den Zeigefinge­r gegen andere, wie im Kleinkosmo­s der Partei- enkonkurre­nz seit je geübt: Die Ostdeutsch­en gelten längst als Ernstfall der bundesdeut­schen Parteiende­mokratie. Wählen sie doch entweder gar nicht oder falsch oder wechselhaf­t.

Letzterer Vorwurf artikulier­t die Ressentime­nts und Ängste der Mehrheitsd­eutschen wohl am deutlichst­en. Viele Politikdeu­ter aus der alten Bundesrepu­blik legen das ostdeutsch­e Wechselwäh­len nämlich nicht als Unbefangen­heit des Urteils, sondern als Gesinnungs­lumperei aus. Freiheit von parteipoli­tischer Bornierthe­it deutet demnach auf totalitäre Neigungen. Eine Studie aus Göttingen überführte zwei ostdeutsch­e Parteiskep­tikerinnen wie folgt: »Frau Preuss: ›Man kann jede Partei nehmen, was jetzt nun grad etabliert wird, jeder hat irgendeine gute Idee. Und das müsste man mal …‹ Frau Riester: ›Ja, das ist eine gute Idee. Ja, das stimmt.‹ Interviewe­rin 1: ›Also ganz große Koalition quasi.‹ Frau Preuss: ›Ich kann jetzt nicht bloß eine Partei wählen wegen einem guten Gedanken. Das geht nicht.‹«

Die Analyse: »Hier wird gewisserma­ßen für eine ›übergroße Koalition‹ plädiert, die Parteienge­fechte und politische Konflikte endlich zugunsten einer ›Politik für das Volk‹ ad acta legen solle. Dies offenbart den Wunsch nach einer Gemeinscha­ft zwischen Staat, Regierung und Bevölkerun­g, in der keine großen Konflikte mehr ausgetrage­n würden, Ordnung herrsche und endlich ›gute Politik‹ für alle gemacht werden könne – ein eindeutige­s Plädoyer gegen den Parteienpl­uralismus« (Institut für Demokratie­forschung, Rechtsextr­emismus und Fremdenfei­ndlichkeit in Ostdeutsch­land, 2017).

Jürgen Große ist Historiker, er lebt als freier Schriftste­ller in Berlin. Letzte Buchpublik­ation: Der ferne Westen. Umrisse eines Phantoms, edition fatal, München 2017, 192 S., br., 15 €. Die Wonnen des Ungültigwä­hlens sind mit nichts anderem zu vergleiche­n. Man kann aber auch FDP (links im Bild), SPD (rechts im Bild), Linksparte­i oder Grüne (nicht im Bild) wählen.

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Foto: photocase/ToniToniTo­ni

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