Stilles Glück im Meinungswinkel
Über das Recht aufs Nichtwählen, Personenwahlvereine, Programmparteien und den feinen Unterschied zwischen Demokratie und Parteienstaat.
Von allen Seiten sehe ich mich gedrängt, demnächst eine radikale Partei zu wählen. Am besten eine, die bereits professioneller Beobachtung untersteht. Nicht, dass mir das leicht fallen würde. Doch die Zukunft der Demokratie insgesamt, so tönt es aus Umfrageinstituten und Podiumsdiskussionen, ist in Gefahr. Parteien verlieren nicht nur an Stammwählern, sondern an Wählern überhaupt. Den Volksparteien läuft das Volk davon. Die Partei jedoch, die für die Demokratie insgesamt steht, kann ich nicht erkennen, die Auswahl ist zu groß. Ist es da nicht demokratieförderlicher, dem geschwächten Immunsystem der Demokratie durch Radikalwahl aufzuhelfen?
Paradoxe Gedankengänge wie dieser liegen nahe, wo Demokratie und Parteienstaat gleichgesetzt sind. Zwar versichern mir Demokratiehüter sogleich, sie hätten bei ihren Besorgtheitsbekundungen nur an die unentschlossenen Wähler demokratischer Parteien gedacht. Man möchte unter sich bleiben. Aber könnte der eindringliche Aufruf, wählen zu gehen, nicht gerade die Sympathisanten demokratiefeindlicher Parteien erwecken, jene politischen Schläfer, denen Forscher ausgeprägte Parteien- und Pluralismusverachtung nachwiesen?
Der kräftigste Ausdruck saisonaler Demokratiehüterschaft ist die Schmähung der Nichtwähler. Ein vages Bewusstsein, dass Nichtwählen der einzig echte Freiheitsakt sein könnte, sobald Freiheit auf Wahl reduziert ist, findet sich weithin. Die Lust zu moralischer Ächtung der Nichtwähler ist daher selbst bei Gewohnheitswählern gering. Die Wahrer parteisystemisch installierter Freiheit allerdings argwöhnen bei den Nichtwählern ein demokratiezerstörerisches Potenzial: Eine wahlfaule oder -feindliche Mehrheit der Gesell- schaft würde deren freiheitlich-demokratisches Ganzes gefährden, die Politik sei dann nicht mehr ausreichend legitimiert, heißt es. Als das gefährdete Ganze der Demokratie gilt selbstverständlich das Ganze des Parteiensystems.
Wie konnte letzteres derart zum Selbstzweck oder Eigenwert, zum »westlichen Wert« aufsteigen? Die Frage führt tief in die Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik. Die frühe Herauslösung der Westzonen aus der gesamtdeutschen Kriegsschuld und Schuldenlast, aus den Verbindlichkeiten realer Geschichte, förderte ein überaus künstliches, zerbrechliches Selbstbewusstsein. Der Westen Deutschlands begann, sich als Teil eines ewigen Westens und seiner Demokratietradition zu imaginieren. Blockbindung, Wachstumsfrömmigkeit und Antikommunismus waren die einzigen ihm abgeforderten, gern erbrachten Leistungen hierfür. Der Parlamentarismus wirkte demgegenüber aufgesetzt, eine von außen verordnete politkulturelle Lektion, die man eifrig zu lernen begann.
Zwar gleichen gerade in der meistbewunderten Demokratie des Westens die Parteien eher Personenwahlvereinen als Weltanschauungsbünden. Unverkennbar ist dennoch das bis heute bestehende Selbstbild bundesdeutscher Musterschülerschaft gegenüber der größten westlichen Siegermacht, damit verbunden auch das Oberlehrerhafte, der Hang zum Vorzeigen und Aufsagen dessen, was sich als demokratisches Formenarsenal ja eigentlich von selbst verstehen müsste. Man lernt, um belehren zu können. »Ostdeutsche müssen Demokratie lernen« (Otto Schily) – wer so spricht, will von eigener Integration künden; Parteienpluralismus für immer.
Nicht wenige der in der Westzone entstandenen Parteien führten das Adjektiv »demokratisch« im Namen, traten als Programmparteien mit Weltanschauungspflicht an. Nun war die sogenannte Machtergreifung auch ein Ergebnis parteiendemokratisch regulierter Machtverhältnisse gewesen. Theodor Heuss, dem bundesdeutschen Heimatgefühl teuer als geistreicher und gemütvoller Bundespräsident, hatte, als Reichstagsabgeordneter 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt – unter Fraktionszwang, wie seine Verehrer versichern. Mithin hatte die parlamentarische Demokratie im 20. Jahrhundert keine gute Figur gemacht. Sie war ein im 19. Jahrhundert entstandenes Mittel, zwischen robusten Interessen den Kompromiss zu finden, nicht mehr und nicht weniger. Ihre Überhöhung zum Selbstzweck darf als sentimentale (und spezifisch bundesdeutsche) Form politischen Bewusstseins gelten. Ein solches hält Symptome für Ursachen, Formen für Inhalte.
Die Fortsetzung der 1933 blamierten Parteiendemokratie wurde in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft durch ihre Umdeklaration in ein politisches Importgut möglich, als System der Sieger. Der schülerhafte Ehrgeiz, sich mit dem Mehrparteiensystem endlich auf dem richtigen, dem westlichen und also siegreichen Weg in die deutsche Geschichte zu wissen, treibt in der Bundesrepublik inzwischen bizarre Blüten. So wurde jüngst die Herausbildung eines Fünfoder Sechsparteiensystems ohne Dominanz zweier »Volksparteien« als Weg in anormale, etwa »holländische Verhältnisse« beklagt.
Wer setzt die Norm der Geschichte? Der Glaube an eine solche Norm ist vielleicht der bundesdeutsche Sonderweg überhaupt. Das westdeutsche Selbstbewusstsein, das sich heute bedrängt und gefährdet sieht – zumeist durch »östliche Unwerte« (Jakob Augstein) –, ist auf solche Fik- tionen angewiesen. Jahrzehntelang hatte man im Windschatten der Geschichte existiert, in den Meinungen, die man sich ungetrübt von realgeschichtlichen Erfahrungen über sich selbst bilden durfte. Unter allen Demokratien des Westens wurde am inbrünstigsten in der bundesdeutschen dem Parteiengeist gehuldigt: Der Pluralismus der Programmparteien erschien als Garant politischer, ja persönlicher Freiheit.
Doch können »Freiheit und Verantwortung« in einer parteipolitisch parzellierten Gesellschaft kaum echte Bedürfnisse werden. Es existiert keine unbeschränkte persönliche Haftung des Einzelnen. Früh lernt er hier, einzig für seinen Meinungswinkel zu stehen und zu sprechen, die eigene politische und ideologische Nische zu bedienen. Weil es einer Partei niemals gelingt, mit hundertprozentigem Ergebnis zu regieren, steht sie auch niemals in hundertprozentiger Verantwortung. Daher der oft kindisch anmutende Stil der großen Worte und Gesten, der Übertreibungen und Ausfälligkeiten gegen die Konkurrenz. Denunziation der falschen Parteiheimat ersetzt Argumentation; das Denken in Gesinnungsloyalitäten und Legislaturperioden macht sorglos. Solange das gut ging, durfte man sein ganzes Leben im Winkel eines parteigeistigen Milieus verbringen, das einen schützte, wärmte und nährte.
Auf das Bröckeln dieser gemütlichen Verhältnisse reagiert der alte, mithin mehrheitsdeutsche Westen gleichfalls regressiv, ja weinerlich. Das Schwinden ideeller und materieller Absicherung dank parteiideologisch sortierter Pluralität erlebt er nicht als befreiend, sondern als verstörend. Vor der Zumutung der Freiheit flüchtet sich der Milieufromme in die Erinnerung besserer Zeiten. Er streckt den Zeigefinger gegen andere, wie im Kleinkosmos der Partei- enkonkurrenz seit je geübt: Die Ostdeutschen gelten längst als Ernstfall der bundesdeutschen Parteiendemokratie. Wählen sie doch entweder gar nicht oder falsch oder wechselhaft.
Letzterer Vorwurf artikuliert die Ressentiments und Ängste der Mehrheitsdeutschen wohl am deutlichsten. Viele Politikdeuter aus der alten Bundesrepublik legen das ostdeutsche Wechselwählen nämlich nicht als Unbefangenheit des Urteils, sondern als Gesinnungslumperei aus. Freiheit von parteipolitischer Borniertheit deutet demnach auf totalitäre Neigungen. Eine Studie aus Göttingen überführte zwei ostdeutsche Parteiskeptikerinnen wie folgt: »Frau Preuss: ›Man kann jede Partei nehmen, was jetzt nun grad etabliert wird, jeder hat irgendeine gute Idee. Und das müsste man mal …‹ Frau Riester: ›Ja, das ist eine gute Idee. Ja, das stimmt.‹ Interviewerin 1: ›Also ganz große Koalition quasi.‹ Frau Preuss: ›Ich kann jetzt nicht bloß eine Partei wählen wegen einem guten Gedanken. Das geht nicht.‹«
Die Analyse: »Hier wird gewissermaßen für eine ›übergroße Koalition‹ plädiert, die Parteiengefechte und politische Konflikte endlich zugunsten einer ›Politik für das Volk‹ ad acta legen solle. Dies offenbart den Wunsch nach einer Gemeinschaft zwischen Staat, Regierung und Bevölkerung, in der keine großen Konflikte mehr ausgetragen würden, Ordnung herrsche und endlich ›gute Politik‹ für alle gemacht werden könne – ein eindeutiges Plädoyer gegen den Parteienpluralismus« (Institut für Demokratieforschung, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, 2017).
Jürgen Große ist Historiker, er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Letzte Buchpublikation: Der ferne Westen. Umrisse eines Phantoms, edition fatal, München 2017, 192 S., br., 15 €. Die Wonnen des Ungültigwählens sind mit nichts anderem zu vergleichen. Man kann aber auch FDP (links im Bild), SPD (rechts im Bild), Linkspartei oder Grüne (nicht im Bild) wählen.