Alles Dichten ist Aufstand
Die
Befürchtungen wissen zu viel, um in diesen Gedichten humorlos zu bleiben. Die Skepsis ist poetisch veranlagt: Sie kann ein Lied davon singen. Aber bitte keinen Gesellschaftsgesundungskanon! Statt dessen ein Geist, bei dem der Witz die Wunde aufzuheitern versucht und die Wunde den Witz mit Unbegreiflichkeit versorgt. Es geht darum, das Absurde gewissermaßen neu zu besilben und frech und frivol zwischen jene Selbstgewissen zu treten, die sich immer wieder freiwillig mit der Blindheit klappriger Weltbegreifenssätze schlagen.
Ingolf Brökel, der Physik an einer Berliner Hochschule lehrt, ist auch Dichter. Der »b-raum«, der dem neuen Band den Titel gab, hat klare Ausmessungen: »in der breite brecht/ in der länge benn/ und büchner ist die höhe«. Der Autor blieb »ein leben lang/ in der sprache hängen«. Schon zu DDR-Zeiten, »in einem abgeschlossenen System/ in dem wir/ erhaltungsgrößen waren«. Und nun, da sich die Welt geöffnet hat? Es »ging wärme verloren/ unordnung zog ein«. Die Texte zeigen ein Doppelgeschehen: Zum einen erzählt Brökel von der Art jener seelischen, politischen, kulturellen Abirrungen, derer wir uns täglich schuldig machen, und zum anderen vollzieht sich zwinkernd die Überführung des Verlustgefühls aufs geistreiche ästhetische Feld. Alles Dichten erscheint als ein Aufstand gegen die Sprachlosigkeit – der seinen rebellischen Sinn nur erhalten kann, indem er just dieses Verstummtsein in immer neue Metaphern treibt.
Kämpferisch naiv ist Brökel, im Gedicht »mensch ärgere dich nicht« heißt es: »einmal täglich/ einen rauswerfen/ das hilft schon«. Sein physikalisches Expertentum bringt er auf den Punkt: »dass die erde/ dich anzieht/ merkst du erst/ am ende«. Wo trotzdem noch der Glaube wirken
Der Mensch kommt seinesgleichen nie ganz auf die Spur.
möge: »dass der letzte der Mohikaner/ us-präsident wird// dass der letzte der/ das blaue wunder erlebte/ sich immer noch wundert«. Wahrnehmungsprotokolle eines leisen, scharfzüngig scheuen, aufrichtig schelmischen Dichters. Der kürzeste Vers heißt »vor dem einschalten« und lautet: »die angst der glühbirne/ vor der lichtgeschwindigkeit«. So leben wir im Spannungsfeld von Ruhe und Sturm, von Idyll und Furor.
»Hier wird zum Nachdenken, nicht zur Nachsicht aufgefordert«, hat Günter Kunert über den Naturwissenschaftler geschrieben. Dessen Poesie trägt offene, neugierige, große Augen in einem Gesicht, das Freundlichkeit wie eine Herausforderung präsentiert – mit der Gewissheit, dass die Welt jede Freundlichkeit wie eine Kampfansage empfinden muss. Und der Kampf trägt! Fürs Ziel, irgendwie mittelgern zu leben. Das geht, das geht sogar sehr gut – wenn du beim Blick auf Geschichte und eigenes Gemüt nur genügend Mut und Lust zur Einsicht hast: Der Mensch kommt seinesgleichen nie ganz auf die Spur. Nimm dich in Schutz, aber nimm dich auch in acht – zuallererst vor dir selber, deinem eingerasteten Antwortverhalten.
Ingolf Brökel: im b-raum. Gedichte. PalmArtPress, 112 S., geb., 20 €.