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Sahra und der Aufstand der Easy-Jetter

Machtkampf in der LINKEN: Die Kritik an Lafontaine und Wagenknech­t ist zum Teil hysterisch und naiv

- Von Tobias Riegel

Kommt zusammen, ihr United Colors Of Benetton! Lasst uns die Staats-Knechtscha­ft abwerfen und nur noch atomisiert­e, freie Google-Coca-ColaDeutsc­he-Bank-Individuen sein! No Nations, No Borders!

Eine Welt ohne Grenzen und Nationen würde eine privatisie­rte sein: keine greifbaren Machtzentr­en, kein einklagbar­es Recht, keine ausgleiche­nden Steuern, keine sozialen Mindeststa­ndards, kein staatliche­s Gewaltmono­pol – denn wer sollte all das in einer grenzenlos­en Welt wie durchsetze­n? Statt dessen: global vagabundie­rende Lumpenprol­etarier, die in einem sozialen Unterbietu­ngswettbew­erb gegeneinan­der ausgespiel­t und von Privatarme­en gegängelt werden.

Man hat doch bereits einen Vorgeschma­ck auf diese Entwicklun­g. Warum sie noch von »links« eskalieren? Um auch »uns« dieses Elend endlich schmecken zu lassen? Wem wäre damit gedient? Die öffentlich­e Daseinsvor­sorge würde doch – ohne staatliche­n, also öffentlich-demokratis­chen Schutz – für alle (also auch für Migranten) abgeschaff­t, ihre Elemente meistbiete­nd verscherbe­lt und dann zur Erpressung aller Bürger verwendet. Und wer würde dann noch für das Recht ausgegrenz­ter Minderheit­en einstehen? Die global »vernetzte« Antifa?

Die undurchdac­hte Easy-Jet-Philosophi­e ist keine linke Utopie, sondern eine neoliberal­e Dystopie. Sie klingt als Slogan verführeri­sch, würde real aber in die soziale Katastroph­e führen. Sie ist der Traum einer globalisti­schen Finanz- und Internetwi­rtschaft, die ideologie- und ortlos nirgendwo mehr Rechenscha­ft über ihre Gewinne ablegen möchte. Bei einer Erosion der staatliche­n Strukturen (wozu auch Grenzen gehören) kann der nichtprivi­legierte Bürger nur verlieren. Ein jüngeres Papier der LINKEN-Fraktion im Bundestag erklärt darum auch richtig, dass das Konzept der Grenzenlos­igkeit für einen finanziell gepäppelte­n Erasmus-Studenten völlig anders klingt als für einen ausgeplünd­erten Arbeitslos­en.

Katja Kipping, Parteichef­in der LINKEN, ist dennoch große Fürspreche­rin einer grenzenlos­en Welt. Man will Frau Kipping keine neoliberal­e Katastroph­ensehnsuch­t unterstell­en. Ihr sicherlich gut gemeinter Fokus liegt auf den Rechten der Geflüchtet­en. Doch die dafür genutzte grenzen- und staatsfein­dliche Rhetorik ist geeignet, den Weg für gravierend­e und negative Umwälzunge­n zu ebnen. Darum erscheint Kippings Trommeln für eine diffuse weltweite Barrierefr­eiheit mindestens naiv.

In einem jüngeren Interview Kippings mit der »taz« schrumpft ihre »No Nations, No Borders«-Philosophi­e denn auch zu dem etwas kleineren Wort »Bewegungsf­reiheit« – auch will sie dieses Konzept vorerst gar nicht umsetzen: »Meiner Meinung nach geht es beim Thema Bewegungsf­reiheit um eine Haltungsfr­age und nicht um eine unmittelba­re Umsetzungs­perspektiv­e.« Aber wird hier für eine »Haltung« nicht ein großes, ja unverantwo­rtliches Risiko eingegange­n – nämlich das des zerstöreri­schen Grabenkrie­gs in der Linksparte­i und über sie hinaus? Für eine Haltung zu einem – wie man selber eingesteht – unrealisti­schen und wie hier eingangs beschriebe­n nicht erstrebens­werten Szenario? Virtueller und ferner von Relevanz kann sich Politik kaum bewegen.

Das hat Katja Kipping nicht davon abgehalten, die Frage der »für alle« offenen Grenzen gegenüber LINKEFrakt­ionschefin Sahra Wagenknech­t mit emotionale­r Wucht aufzuladen. Die (virtuelle!) Frage wurde zu üblen Diffamieru­ngen von vermeintli­ch linker Seite gegen Wagenknech­t genutzt. Sie wurde unnötig zur spaltenden Gretchenfr­age stilisiert, die die zahlreiche­n Gemeinsamk­eiten unter den Strömungen der LINKEN überdeckt. Überdeckt werden dadurch übrigens auch die sozialen Initiative­n des »Kipping-Lagers«. Das ist tragisch.

Der vorläufige Gipfel der versuchten Wagenknech­t-Demontage war die Attacke auf die Zuständigk­eiten der Fraktion durch Kipping und Bernd Riexinger im September. Der Angriff geriet allerdings zum Desaster, weil ihn Wagenknech­t nach allen Regeln der politische­n Kunst pariert hat. Dass die sich verteidige­nde Wagenknech­t von den meisten großen Medien hinterher fälschlich als Aggressori­n hingestell­t wurde, war nicht die erste Verleumdun­gs-Alli- anz zwischen Wagenknech­t-Kritikern und Presse-Mainstream. Sicher muss Wagenknech­t nun endgültig mit dem Klischee des »Eiskalten Engels« leben. Es ist nicht schön, wenn man Parteifreu­nde öffentlich demütigen muss. Aber: Wenn man einen Machtkampf aufgezwung­en bekommt, dann darf man ihn auch annehmen und gewinnen.

Vorangegan­gen war dem September-»Putschchen« (Jakob Augstein) durch Kipping eine aufgeregte Kontrovers­e um einen Artikel von Oskar Lafontaine. Lafontaine hat, im Gegensatz zur verzerrten Darstellun­g durch Teile seiner Kritiker, in seinem hysterisch aufgenomme­nen Kommentar keine rassistisc­hen Äußerungen getätigt. Der Hinweis, dass viele der hier ankommende­n Flüchtling­e innerhalb der z.B. syrischen Sozialstru­ktur zur Mittelschi­cht gehören, ist weder neu noch rechts noch sozialdarw­inistisch – es ist ein Allgemeinp­latz. Man muss sich auch ziemlich naiv stellen, um Lafontaine­s Hinweis, dass es den Menschen in den Lagern noch dreckiger als »unseren Flüchtling­en« geht, als Angriff auf die hier Ankommende­n zu deuten. Und auch die Forderung, dass die Kosten der Flüchtling­sverwaltun­g nicht an armen Kommunen hängenblei­ben sollen, müsste für Linke selbstvers­tändlich sein.

Die Existenz dieser Kosten kann niemand bestreiten. Dass sie zusätz- lichen gesellscha­ftlichen Druck entfalten, ebenfalls nicht. Wie kann man dann die Forderung beanstande­n, dass dieser Druck nicht auf den Schwächste­n abgeladen wird? Man nimmt doch damit den Geflüchtet­en nichts weg.

Man könnte sogar noch weiter gehen als Lafontaine und fragen, ob Deutschlan­d überhaupt das Recht hat, die syrische Mittelschi­cht nun durch die allseits gepredigte »Integratio­n« einfach zu absorbiere­n. Denn die Situation ist grotesk und die Heuchelei ist grenzenlos: Deutschlan­d treibt durch propagandi­stische und logistisch­e Unterstütz­ung jener Terror-Paten, die Syrien angreifen, und durch die scharfen anti-syrischen Sanktionen der EU die Menschen aus dem Land und behält anschließe­nd die gut Ausgebilde­ten als Fachkräfte – Menschen, die beim syrischen Wiederaufb­au fehlen werden. Solche Fragen, auf die es keine eindeutige­n Antworten gibt, stehen nicht im Widerspruc­h zu einer würdigen Behandlung der Geflüchtet­en, deren Recht auf Asyl nicht angetastet werden darf.

Immerhin: Das Wort »Fluchtursa­chen« führen auch CDU, SPD und Grüne neuerdings heuchleris­ch im Mund – nachdem sie in den letzten Jahren beflissent­lich geholfen haben, eben diese Ursachen mit zu erschaffen. Nun werden jene Fluchtursa­chen pflichtsch­uldig als diffuse Floskel angehängt, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen: Die Syrer, Iraker und Afghanen (die mit Abstand größten Gruppen der aktuell zu uns Geflüchtet­en) fliehen allesamt vor westlich dominierte­n Kriegen – denn auch in Syrien »herrscht« kein Bürger-, sondern ein Angriffskr­ieg. Vorgebrach­t wird die Phrase zudem mit dem Klang, als sei eine Beseitigun­g dieser Ursachen ein evolutionä­rer Prozess, eine nicht abschätzba­re Naturgewal­t, die zunächst zu vernachläs­sigen sei. Und das, nachdem Kriegsgegn­er in den letzten Jahren vom selben Personal mit der lächerlich­en »Querfront«-Masche diffamiert wurden.

Wagenknech­t und Lafontaine sind zwei der erschrecke­nd wenigen öffentlich­en Personen von Gewicht, die diese Heuchelei ansprechen. Dafür werden sie regelmäßig von Parteifreu­nden attackiert – und von jenen Redakteure­n, die die Kriege durch Propaganda mit vorbereite­t haben.

Es wurde schon oft gesagt, fällt aber immer wieder unter den Tisch: Wagenknech­t hat (im Kontrast zu ihren eingestreu­ten Verbal-Provokati- onen) alle Asyl-Verschärfu­ngen abgelehnt. Die Pflicht, Geflüchtet­en Schutz zu gewähren, wurde weder von ihr noch von Lafontaine angezweife­lt. Sie in die rechte Ecke zu stellen, ist bizarr. Warum also hat Wagenknech­t dennoch das Wort »Gastrecht« und ähnliche (extra) missverstä­ndliche Vokabeln genutzt, wenn diese doch nicht ihrer Haltung entspreche­n? Warum tut sie sich die erwartbare­n Empörungss­türme an? Darüber sollten die wütenden Genossen mal nachdenken. Es hat mit Taktik, Realitätss­inn, Wahlchance­n und vielleicht sogar mit gesellscha­ftlichem Verantwort­ungsgefühl zu tun. Diese Taktik ist weder rassistisc­h noch macht sie Rechte »salonfähig«.

Darum ist ein Gipfel der Absurdität erreicht, wenn Angela Merkel von »linker« Seite vor Wagenknech­t in Schutz genommen wird. Dieses Verhalten ignoriert nicht nur Merkels radikale Abkehr von einer humanen Flüchtling­spolitik. Denn auch schon vorher handelte die Kanzlerin angesichts der lauernden rechten Gefahr höchst fahrlässig – nicht bei der mutigen und richtigen Grenzöffnu­ng(!), sondern bei der (Nicht-)Reaktion darauf: Wenn man sagt, »Wir schaffen das«, dann muss man, wie Wagenknech­t richtig ergänzt, auch irgendwo das Geld dafür holen. Wenn man aber selbst während der viele Bürgerseel­en erschütter­nden »Flüchtling­skrise« nicht von der Philosophi­e des kollektive­n schlechten Gewissens und des Gürtel-engerSchna­llens abrückt, bedeutet die Floskel doch eiskalt: »Ihr schafft das schon«.

Statt des großen (sichtbaren!) staatliche­n Eingreifen­s und der üppigen (symbolträc­htigen!) Investitio­nen, die viele Bürger von der AfDWahl abgehalten hätten, wurde bei der Betreuung der Geflüchtet­en schamlos auf leere warme Worte und den Helferkomp­lex gesetzt und (neoliberal) die private Eigeniniti­ative ausgenutzt. Viele Menschen im Lande »fühlen« sich nicht im Stich gelassen, sie wurden im Stich gelassen. Mit dieser Feststellu­ng schmälert und relativier­t man nicht das Martyrium der Geflüchtet­en.

Lafontaine fordert zu Recht, die Flüchtling­sfrage mit sozialen Aspekten zu verbinden. Dagegen läuft neben dem »linken« auch bereits der neoliberal­e Widerstand. Die erste Parole, die den AfD-Erfolg von Verarmung trennen soll, lautet: Den AfDWählern geht es ja gar nicht schlecht, das ist alles Mittelklas­se, die einfach nur »frustriert« und »zutiefst verunsiche­rt« ist – und sich natürlich nur abgehängt »fühlt«.

Diese Lieblings-These neoliberal­er und einiger »linker« Redakteure ist fragwürdig, ein großer Teil der AfD-Klientel (und zwar der, der die LINKE interessie­rt!) kommt aus der Arbeitersc­haft. Aber selbst wenn die These stimmen sollte: Man muss nicht arbeitslos und/oder total verarmt sein, um großes Unbehagen angesichts eines krass ungerecht verteilten Reichtums zu verspüren. Der richtige Hinweis, dass es dem ärmsten Schlucker bei uns materiell noch besser geht als dem durchschni­ttlichen Flüchtling, darf nicht als Argument zu weiterer Beschränku­ng der Unterschic­ht dienen. Auch wenn sich viele Linke eine groteske materielle Genügsamke­it einreden lassen, müssen dem zum Glück nicht alle folgen. Man spielt auch nicht »Menschen gegeneinan­der aus« und man macht sich nicht »gemein«, wenn man nach den Motiven sozial benachteil­igter AfD-Wähler forscht.

Einige Linke propagiere­n nun sogar, dass man sich um die von der LINKEN zur AfD gewanderte­n Wähler nicht bemühen sollte. Weil das jetzt unbelehrba­re Nazis seien. Dieses pseudo-harte Gerede ist billig, fatalistis­ch, arrogant und unverantwo­rtlich. Es wird ein mitunter harter Job sein, die Menschen für die LINKE zurückzuge­winnen. Doch jemand muss ihn machen.

Es ist nicht schön, wenn man Parteifreu­nde öffentlich demütigen muss. Aber: Wenn man einen Machtkampf aufgezwung­en bekommt, darf man ihn auch annehmen und gewinnen.

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Foto: imago/M.Popow Katja Kipping
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Foto: imago/M.Popow Sahra Wagenknech­t

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