Spinne mit Akkuantrieb
Hannover Messe: Intelligente Technik erleichtert viele Prozesse in der Industrie, lässt aber um Arbeitsplätze bangen
Wie Hightech auf der Hannover-Messe verzückt und verängstigt.
In der Fabrik der Zukunft steht der Mensch im Mittelpunkt, sagen die Macher der Hannover Messe. Doch Roboter, »lernende« Maschinen und Digitalisierung führen auch zu vielen Sorgen. Merle Menje war acht, als sie mit ihrem Rennrollstuhl beim Heidelbergmarathon zum Sieg fuhr. Heute, mit 14, winkt der Baden-Württembergerin laut dem Deutschen Behindertensportverband eine verheißungsvolle Karriere im paralympischen Sport – die Merle nicht auf den Rollstuhl beschränken will: Vielmehr möchte sie mit dem »Sitski«, einer Kombination aus Ski und Schlitten, Athletinnen wie Andrea Eskau nacheifern, die bei den Paralympics in Südkorea kürzlich zwei Goldmedaillen gewann. Merles Sportgerät ist eine der ersten Neuheiten, die den Journalisten bei einer »HighlightTour« auf der am Montag gestarteten Hannover Messe präsentiert wird.
Passend ist hier wörtlich zu nehmen, denn: Der »Sitski« ist ganz individuell für Merle hergestellt worden – mit einem 3-D-Drucker. Für diesen Produktionsprozess werden die Sportlerin oder der Sportler gescannt, die dabei gewonnenen persönlichen Messwerte erreichen auf digitalem Wege den Drucker, er beginnt den Schlitten zu bauen – und schon erscheinen auf einem Display das Lieferdatum und der Preis.
Ruck, zuck geht das alles und dient als Beispiel dafür, wie auf diesem Scanner-Drucker-Weg nicht nur Schlitten, sondern auch viele anderer Produkte überaus schnell gefertigt werden können. Die Schnelligkeit schaffe gerade kleineren Unternehmen enorme Wettbewerbsvorteile, lobt ein Firmensprecher die Kombination aus digitaler Technik und 3D-Druck. »Kann sich mal jemand auf den Schlitten setzen«, bitten Fotografen – das Produkt wird gern abgelichtet, es ist sympathisch, macht auf der weltgrößten Industrieschau sichtbar, wie moderne Technik den Menschen, in diesem Fall Behindertensportlern, zum Assistenten werden kann.
Assistent, nicht Konkurrent des Menschen sein: Das sei Ziel der Technik, wie sie noch bis Freitag in Niedersachsens Hauptstadt gezeigt wird. Fast wie ein Mantra wird dies immer wieder von der Messeleitung betont und von Firmenchefs, so auch bei der Pressetour durch die Hallen und über das Gelände, wo auf insgesamt 227 000 Quadratmetern über 5000 Aussteller zugegen sind. Rund 60 Prozent kommen aus dem Ausland. Zahlenmäßig am stärksten ist Deutschland vertreten, gefolgt von China, Italien und Mexiko, 2018 Partnerland der Messe, zu der gut 200 000 Besucher erwartet werden.
Besonders Exponate, die als »intelligent« gelten, werden dem Pressetross gern vorgeführt. Etwa Fertigungsstraßen, an denen die Roboter nicht nur Werkstücke bewegen und montieren, sondern – während sie das tun – selbst durch Datengewinnung ermitteln, wie der jeweilige Produktionsablauf optimiert werden kann. Klar, ein Industriefließband lässt sich nicht in die Messehalle zwängen, Kameraleute müssen sich mit einem Modell begnügen, auf dem kleine Roboter unermüdlich ihre Arbeit leisten. Dafür, dass dies einwandfrei geschieht, haben zuvor Mitarbeiter des Unternehmens gesorgt, denn: Bei aller »Intelligenz« lernen die Maschinen letztlich von Menschen.
Diese Tatsache kommentieren Messechefs ab und zu mit Sätzen wie »Mensch und Maschine sind gemeinsam die Säulen der Industrie« oder: »Assistenzsysteme helfen nicht nur bei schweren Arbeiten, sondern auch beim Treffen wichtiger Entscheidungen«. Sätze, die von Managern gern gesagt sagt werden, wohl wissend, dass nicht wenige Menschen in all den »intelligenten« Systemen, in »denkenden« und lernenden Komponenten einer digitalisierten Industrie durchaus nicht nur Assistenz, sondern auch etwas sehen, das Angst macht: Angst um die Arbeitsplätze.
Die Firmenvertreter, bei der Pressevisite auf solche Sorgen angespro- chen werden, wiegeln ab. Es erklingt stets der gleiche Beruhigungsgesang: Es gebe keinen Grund für derlei Ängste; je mehr Roboter, desto mehr Arbeitskräfte würden benötigt, es sei doch bekannt, dass Fachkräftemangel herrsche.
Doch es geht gar nicht um Arbeitsplätze für Spezialisten, sondern vor allem um die »einfachen« Tätigkeiten, die immer mehr von der Technik übernommen werden. Auch komplexe Montagearbeiten können Roboterhände mittlerweile ausführen, sind sie doch in punkto Gelenkigkeit und Feinmotorik offensichtlich konkurrenzfähig zur menschlichen Hand.
Und auch Aufgaben, für die ein Arbeiter, wollte er sie gleichzeitig bewältigen, mehr als zehn Finger haben müsste, können von Neuentwicklungen auf der Messe bewältigt werden. Etwa von einem Leichtbauroboter, der nicht nur aussieht wie eine vergrößerte Wüstenspinne, sondern tatsächlich eine solche auch hinsichtlich der Mobilität zum Vorbild hat. Welche Bewegungsvielfalt in dem digital gesteuerten Krabbeltier steckt, zeigt sich, als es plötzlich auf die vielen Presseobjektive zueilt – ein willkommenes Motiv.
Erfindungen wie die Roboterspinne oder die lernende Fertigungsstraße faszinieren gewiss nicht allein das Fachpublikum, das die Industriemesse eindeutig dominiert. Aber »Laien« sollten vor dem Besuch in Hannover bedenken: Im IT- und Ro- boterkosmos wird sich bei Kommunikation und Information häufig der englischen Sprache bedient, und zwar deren Fachterminologie. Auch Presseleute, die nicht ständig in der Materie »drin« sind, ziehen schon mal die Stirn kraus, wenn auf der Tour ein Stand seine Infotafeln komplett auf Englisch beschriftet hat oder wenn der Hinweis kommt, »mit Intelliedge Gateway und Appliance« werde »die Lücke zwischen Operational Technology und On-Premisesowie Cloud-basierter IT erschlossen«. Alles verstanden?
Egal, die Experten und Entscheider, die auf der Messe für ihre Firmen prüfen und viel Geld ausgeben werden, wissen Bescheid. Die noch vor einigen Jahren über das Gelände flanierenden, bei Ausstellern wenig beliebten »Sehleute«, die den Messebesuch zum Sonntagsausflug nutzten, sind fast ganz verschwunden. Emsig sammelten sie früher Kugelschreiber und Werbematerial für nie benötigte Großprodukte, stopf- ten Tüten mit bunten Prospekten voll, die spätestens an der Straßenbahnhaltestelle in den Papierkorb wanderten. Der Eintrittspreis, ein Tagesticket kostet inzwischen 39 Euro, mag da als »Filter« gewirkt haben.
Ein Objekt allerdings, das die Fotografen besonders emsig ablichten, würde wohl auch den vielzitierten Normalverbraucher beeindrucken: der »e.GO Mover«. Ein Kleinbus, der in Kooperation mehrerer Unternehmen entwickelt wurde und mit dem eines Tages bis zu 14 Passagiere zum Arbeitsplatz oder zum Freizeitvergnügen gelangen können. Elektrisch, leise – und von der Buselektronik eigenständig und sicher ans Ziel gesteuert. Doch bis zur kompletten Autonomie wird noch einige Zeit vergehen; zunächst einmal soll der Mover voll und ganz von einem Fahrer bedient werden, nach und nach dann aber das autonome Fahren in verschiedenen Stufen »lernen«. Dieses Training wird in mehreren Orten Deutschlands geschehen, unter ihnen sind München und Friedrichshafen.
Der Medienausflug zu einigen Höhepunkten endet schließlich auf dem Stand des Partnerlandes Mexiko: Auf dem Weg dorthin werden Erinnerungen wach an eine Pressekonferenz, auf der Messevorstandschef Joachim Köckler vor einigen Tagen das Verhältnis zwischen den USA und dem Nachbarstaat gestreift hatte, das derzeit nicht nur durch US-Präsident Do- nald Trumps Mauerpläne getrübt ist. Früher sei es ja »mit dem nördlichem Handelspartner noch etwas einfacher« gewesen als heute. Wenn Mexiko deshalb nun neue Märkte suche, gehe das nirgends besser als in Hannover, denn da sei »die ganze Welt« auf der Messe vertreten, rief Köckler den Repräsentanten des Gastlandes zu.
Mexiko ist mit 160 Ausstellern auf der Industrieschau vertreten und will dieser Tage nun, wie es seitens der Messe heißt, in Hannover »die ganze Welt von den zahlreichen Vorzügen des Landes als strategischer Partner für industrielle Innovation überzeugen«. Das Land erfreue sich »an einer beispiellosen Phase der makroökonomischen Stabilität« und habe im Jahr 2017 ausländische Direktinvestitionen in Höhe von fast 30 Milliarden US-Dollar verzeichnen können, erfahren die Teilnehmer der Highlighttour.
Wer aus ihrem Kreis nach dem Rundgang durch die Hallen und das Freigelände schließlich per Bahn Hannovers Mitte ansteuert, begegnet Mexiko auch dort. Allerdings nicht in Gestalt werbeträchtiger Zahlen, sondern auf großformatigen Plakaten von Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation fragt in drei Sprachen nach dem Verbleib vieler tausend Menschen, die in Mexiko »gewaltsam verschwunden« seien. »Der Staat schützt die Täter«, klagt Amnesty das Gastland der Hannover Messe an.
Die noch vor einigen Jahren über das Messegelände flanierenden »Sehleute« sind fast ganz verschwunden.