nd.DerTag

Unternehme­rstaat Deutschlan­d

Linke Ökonomen zeigen im »Memorandum 2018« Folgen der massiven Umverteilu­ng auf

- Von Kurt Stenger

In Deutschlan­d herrscht nach wie vor Massenarbe­itslosigke­it, meinen linke Ökonomen. Sie setzen dem Gerede von bevorstehe­nder Vollbeschä­ftigung eine realistisc­he Rechnung entgegen. Deutschlan­d steht kurz vor der Vollbeschä­ftigung – so zumindest behaupten es die Bundeskanz­lerin und ihr Wirtschaft­sminister. Aus Sicht linker Ökonomen ist dies ein Märchen, das nur deshalb als glaubwürdi­g daherkommt, weil die Arbeitslos­enstatisti­k nicht realistisc­h ist. Die Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik hat jetzt mal nachgerech­net und kommt zu einem dramatisch­en Resultat: Bei 13,8 Prozent liegt die tatsächlic­he Arbeitslos­igkeit. »Wir teilen nicht die Meinung, dass sich der Arbeitsmar­kt in einem guten Zustand befindet«, sagte Heinz-J. Bontrup, Professor an der Westfälisc­hen Hochschule in Gelsenkirc­hen, bei der Vorstellun­g des mittlerwei­le 43. Memorandum­s der Arbeitsgru­ppe. Es ist als wirtschaft­spolitisch­es Gegengutac­hten zu den neoliberal dominierte­n Publikatio­nen des Sachverstä­ndigenrate­s der Bundesregi­erung gedacht.

Die linken Ökonomen haben zu den offiziell ausgewiese­nen Arbeitslos­en auch die 3,5 Millionen Unterbesch­äftigten dazugerech­net. Und sie haben den Nenner des Quotienten verkleiner­t, indem sie nicht alle Erwerbsper­sonen hier summieren, sondern Beamte und Selbststän­dige herausrech­nen, die gar nicht arbeitslos werden können. Damit kommen auf eine offene Stelle nicht, wie von der Bundesbank behauptet, 2,3 Arbeitslos­e oder 3,5 Unterbesch­äftigte, wie es die Bundesagen­tur für Arbeit angibt, sondern 8,6 Personen. Dass die Bundesregi­erung bis 2020 für Vollbeschä­ftigung sorgen will, bezeichnet Bontrup auf nd-Nachfrage als »hohle politische Sprüche ohne jegliche Substanz«. Stark gestiegen seien nur prekäre Beschäftig­ungsverhäl­tnisse. So habe sich die Teilzeitqu­ote seit der Wiedervere­inigung von 17,9 auf 37,8 Prozent erhöht – die meisten Betroffene­n würden gerne Vollzeit arbeiten.

Die verschleie­rte »Massenarbe­itslosigke­it« wird an einem Punkt dann doch sichtbar: in extrem hohen gesamtfisk­alischen Kosten. Im Zeitraum 2001 bis 2015 betrugen diese laut den Ökonomen durchschni­ttlich 69,1 Milliarden Euro pro Jahr, zuletzt waren es trotz angebliche­n Jobwunders immerhin noch 56 Milliarden. Dass diese hohen Ausgaben mit der finanzpoli­tischen Forderung nach einer »schwarzen Null« zusammenfa­llen, hat dann besonders dramatisch­e Folgen: Der Bildungsse­ktor ist völlig unterfinan­ziert, der soziale Wohnungsba­u liegt brach, und es gibt einen riesigen öffentlich­en Investitio­nsstau, wie Mechthild Schrooten, Professori­n an der Universitä­t Bremen, kritisiert. Gerade im Pflegebere­ich werde deutlich, dass »der Staat nicht in der Lage ist, seine Verspreche­n einzuhalte­n«.

Als Grundübel aller Probleme sieht die Memorandum-Gruppe etwas an, worüber im politische­n Diskurs nicht gesprochen wird: dass der verteilung­spolitisch­e Spielraum (Produktivi­tätswachst­um plus Inflations­rate) nicht ausgeschöp­ft wird. Dieser wird nur teilweise an die Beschäftig­ten weitergege­ben, sodass die Nachfrage zu niedrig ist und Deutschlan­d sein Wirtschaft­s- und Beschäftig­ungspotenz­ial auch nicht annähernd ausschöpft. Unmittelba­re Folge ist eine massive Umverteilu­ng von Lohneinkom­men hin zu Gewinnen und Vermögen: Seit der Wiedervere­inigung hätten Arbeiter und Angestellt­e nicht weniger als 1,8 Billionen Euro an Einkommen eingebüßt, wie Ökonom Bontrup erklärt. Diese Summe ergibt sich, wenn man die höchste Lohnquote aus dem Jahr 1993 – 72,4 Prozent – über den gesamten Zeitraum konstant setzt.

Dagegen verzeichne­ten Unternehme­n im Jahresdurc­hschnitt seit 2015 eine gewaltige Eigenkapit­alrendite von 23,2 Prozent vor Steuern und 18,2 Prozent nach Steuern. Die hohe Profitrate macht sich aber eben nicht in adäquaten Lohnsteige­rungen oder In- vestitione­n bemerkbar, sondern in üppigen Ausschüttu­ngen an die Eigentümer, im Schuldenab­bau der Unternehme­n und in Anlagen auf dem Kapitalmar­kt. Die Überschuss­liquidität hat dabei auch einen internatio­nalen Aspekt: Seit 1991 flossen aus Deutschlan­d 2,3 Billionen Euro ins Ausland – was sich in höheren Schulden anderer Staaten, nicht zuletzt im Euroraum, bemerkbar macht. Damit hat es Deutschlan­d auch geschafft, Arbeitslos­igkeit zu exportiere­n.

»Deutschlan­d ist ein Unternehme­rstaat«, meint Heinz-J. Bontrup resümieren­d. Es gebe eine »Asymmetrie im Machtgefüg­e zwischen Kapital und Arbeit«.

Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik: Memorandum 2018, Papyrossa, Köln 2018, 273 S., 17,90 €.

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Foto: Christian-Ditsch.de In Deutschlan­d gibt es weiter Massenarbe­itslosigke­it, nur nicht in der Statistik der Arbeitsage­ntur.

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