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Amazon hat gewählt

New York und Arlington teilen sich das neue Hauptquart­ier des Onlinehänd­lers – nicht alle sind froh darüber

- Von John Dyer, Boston

Der Internetri­ese Amazon zieht mit seinem zweiten Hauptquart­ier in boomende Regionen mit globaler Vernetzung. New York und Washington müssen für den Zuschlag aber einiges auf den Tisch legen. Insgesamt 238 Städte und Regionen aus ganz Nordamerik­a haben Millionen Dollar für ihre Bewerbunge­n um den zweiten Hauptsitz von Amazon, kurz HQ2, ausgegeben. Ein Jahr mussten sie warten, bis Konzernche­f Jeff Bezos entschied, wo er seinen neuen Tech-Hub platzieren will. Das HQ2 sollen sich New York City und Arlington (Virginia), eine Nachbarsta­dt von Washington, DC, teilen, wie am Dienstag (Ortszeit) mitgeteilt wurde. Damit hat der Internethä­ndler Gegenden gewählt, die seinen Ambitionen entspreche­n: »Diese beiden Standorte werden es uns ermögliche­n, Weltklasse-Talente anzuziehen, die uns helfen werden, noch viele Jahre lang erfinderis­ch für unsere Kunden zu sein«, erklärte Bezos am Firmensitz Seattle.

Im September 2017 hatte der Konzernche­f, einer der reichsten Männer der Welt, seine Pläne für ein zweites Hauptquart­ier angekündig­t. Nachdem weit über 200 Bewerbunge­n eingegange­n waren, veröffentl­ichte der Konzern im Januar eine Liste mit 20 Städten seiner engeren Wahl. Nun wird die Megainvest­ition auf zwei Standorte aufgeteilt. Das große Interesse ist verständli­ch, denn vor Ort sollen 50 000 Arbeitsplä­tze mit durchschni­ttlichen Jahresgehä­ltern von 150 000 US-Dollar entstehen. Fünf Milliarden Dollar sollen investiert werden und 740 000 Quadratmet­er neue Büro- und Technikflä­chen entstehen. Und diese Zahlen beinhalten noch nicht die Zulieferer oder zu erwartende Ex-Mitarbeite­r-Start-ups.

»Dies ist ein großer Schritt auf unserem Weg zum Aufbau einer Wirtschaft in New York City, die niemanden zurückläss­t«, freute sich Bürgermeis­ter Bill de Blasio nach dem Zuschlag. »Wir werden diese Gelegenhei­t nutzen, um Tausenden Menschen, die auf der Suche nach ihrem Einstieg in die neue Wirtschaft sind, eine gute Karriere im technische­n Bereich zu ermögliche­n, einschließ­lich derjenigen an Hochschule­n und im öffentlich­en Wohnungsba­u.«

Einige Bewohner der neuen HQ2Zonen haben jedoch Zweifel, dass sich die Amazon-Investitio­n für sie positiv auswirken wird. New York und Washington sind jetzt schon zwei der teuersten Städte in den USA. In New York siedelt sich Amazon in Long Island City im Bezirk Queens an, wo bis vor 20 Jahren hauptsächl­ich Lagerhalle­n standen. Hier sind die Mieten noch meist erschwingl­ich, auch wenn der Bau neuer Wohnungen eine erste Welle der Gentrifizi­erung ausgelöst hat. Die einzige U-Bahn-Linie ist bereits jetzt eine der am stärksten überlastet­en in der Stadt.

Statt direkt in die Bundeshaup­tstadt Washington zieht Amazon auf die andere Seite des Flusses Potomac in den Stadtteil Crystal City von Arlington. Es ist eine Pendlerstr­ecke mit überlastet­en Autobahnen. Und es gibt nur eine einzige U-Bahn-Station. Dafür liegt der Standort neben dem Großflugha­fen »Ronald Reagan Washington National Airport«.

Dass Amazons Wahl auf zwei ohnehin boomende Regionen fiel, ist für viele eine Enttäuschu­ng. Allerdings war es auch keine große Überraschu­ng, denn beide hatten viel zu bieten: New York lockte mit Subvention­en von 1,5 Milliarden Dollar, meist in Form von Steuerverg­ünstigunge­n. In Arlington sind es nach Angaben des Konzerns 573 Millionen Dollar.

Für viele US-Bürger ist es paradox, dass ausgerechn­et der internetba­sierte Handelsrie­se, der die Zerstörung von Geschäften für Bauzubehör beschleuni­gt hat, selbst ein derart großes Bauvorhabe­n startet. Viele haben zudem das Gefühl, dass das gesamte Bewerbungs­verfahren eine Farce war. »Die HQ2-Wahl war eine Täuschung«, twitterte der Wirtschaft­spublizist Joe Fassler. »Nachdem sich Stadt- und Landesregi­erungen in ganz Amerika ein Jahr lang vor Amazon niedergewo­rfen hatten, machte das Unternehme­n einen völlig überrasche­nden Schritt: die Ankündigun­g neuer Standorte in den beiden mächtigste­n Städten des Landes.« Stephen Case, Gründer des Internetpi­oniers AOL, sagte, er hoffe, dass viele Kommunen ihre Lektion lernen werden: »Investiere die Hälfte der Energie und das halbe Kapital, das du bereit warst, für #Amazon zu verwenden, und stecke es in deinen Start-up-Sektor. Das wird in den nächsten Jahrzehnte­n viel mehr Früchte tragen.«

Stacy Mitchell, Direktorin des konzernkri­tischen Institute for Local SelfRelian­ce, weist auf einen anderen wichtigen Aspekt hin: »Der große Gewinn, den Amazon aus seinem HQ2Werbega­g zieht, ist nicht das Loblied eines Haufens von Stadtführe­rn oder die Milliarden­subvention­en, die das Unternehme­n aus öffentlich­en Kassen erpressen wird – es sind die Daten.« Tatsächlic­h erhielt Amazon mit den Bewerbunge­n wertvolle Informatio­nen über alle möglichen Innovation­szentralen im gesamten Land einschließ­lich nicht-öffentlich­er Informatio­nen von Handelskam­mern und anderen privaten Gruppen – das dürfte sich in den kommenden Jahren als äußerst wertvoll erweisen.

»Der große Gewinn, den Amazon aus seinem HQ2-Werbegag zieht, sind die Daten.« Stacy Mitchell, Institute for Local Self-Reliance

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Foto: AFP/Spencer Platt In Long Island City im New Yorker Stadtteil Queens geht es bisher recht gemütlich zu. Die Mieten sind meist erschwingl­ich. Jetzt kommt Amazon.

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