Peter Eßer Die EU diskutiert ihre Kartellregeln Kurt Stenger Nord Stream 2 und die neue EU-Gasrichtlinie
Vom Nutzen und Nachteil europäischer Großkonzerne.
Ein flexibleres Wettbewerbsrecht, das Fusionen einfacher zulässt, birgt Risiken.
Ein europäischer Champion hätte es werden sollen. Einer, der es mit der Konkurrenz aus China aufnehmen kann. Doch das deutsch-französische Vorzeigeindustrieprojekt einer Fusion von Alstom und Siemens ist gescheitert. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager schob der Übernahme des französischen TGV-Herstellers durch den deutschen Traditionskonzern einen Riegel vor. Die Aufregung in Paris, Berlin und Brüssel war groß – und doch von kurzer Dauer. Was bleibt, ist eine Debatte über die Industriepolitik in Zeiten der Globalisierung.
Kartellrechtlich war die Angelegenheit wohl das, was im Englischen als »no brainer« bezeichnet wird, eine Entscheidung, die ohne großes Nachdenken hätte getroffen werden können. Schon jetzt sind Siemens und Alstom in Europa mit Abstand Marktführer. In einzelnen Bereichen hätte ein fusioniertes Unternehmen eine fast perfekte Monopolstellung erreicht. Bei einer Anhörung der EU-Kommission mit den nationalen Kartellbehörden sprachen sich die Vertreter von 27 der 28 Mitgliedstaaten für ein Verbot der Fusion aus. Eine einzige Behörde – die deutsche – enthielt sich.
Dennoch fielen die Reaktionen harsch aus. Sowohl Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire als auch der Spitzenkandidat der Konservativen für die Europawahl, Manfred Weber (CSU), bezeichneten Vestagers »Nein« schlichtweg als falsch. Er will eine Reform des Wettbewerbsrechts nun sogar zu einem zentralen Wahlkampfthema machen. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) fordert eher vage eine »zeitgemäße Anpassung«, um Zusammenschlüsse wie die von Siemens und Alstom künftig zu ermöglichen. Sein französischer Kollege Le Maire wurde konkreter: Statt dem europäischen solle künftig der Weltmarkt als Referenz für Kartellentscheidungen dienen. Außerdem sollten künftig die Staatschefs ein Wort mitzureden haben, damit »es nicht nur eine technische Entscheidung ist«.
Dies käme de facto einer teilweisen Entmachtung der EU-Kommission gleich. Das Wettbewerbsrecht ist einer der wenigen Bereiche, in denen die EU-Exekutive echte Entscheidungsgewalt hat. Die zuständige Kommissarin Vestager hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht, indem sie kompromisslos gegen steuertricksende Großkonzerne vorging. In Europa erntete die Dänin damit viel Anerkennung – und in Übersee die Missbilligung von US-Präsident Donald Trump.
»Wenn Weber und Altmaier von der Reform des europäischen Wettbewerbsrechts reden, meinen sie die Stärkung von multinationalen Großkonzernen«, kritisiert der finanzpolitische Sprecher der Linkspartei im EU-Parlament, Martin Schirdewan. Dabei blieben wichtige Themen wie etwa die öffentliche Daseinsvorsorge, Jobgarantien bei Fusionen, gerechte Verbraucherpreise und der Umweltschutz auf der Strecke.
Das war auch schon bei den Alstom-Siemens-Plänen erkennbar: »Vor allem außerhalb Frankreichs und Deutschlands hätte der Zusammenschluss zu erheblichen Arbeitsplatzverlusten geführt«, beklagte die belgische Gewerkschaft CNE. In der Begründung ihrer Ablehnung ging die Kommission auf den Verlust von Arbeitsplätzen nicht ein.
Die Überlegungen zu einer Überprüfung der Wettbewerbsregeln finden indes auch bei Gewerkschaften Zuspruch. »Europäische Unternehmen müssen auf dem Weltmarkt des 21. Jahrhunderts hochwertige Arbeitsplätze schaffen, und in diesem Zusammenhang brauchen wir dringend diese Debatte«, erklärte Luc Triangle, Generalsekretär der Gewerkschaftsföderation IndustriALL Europe. »Eine Überprüfung bedeutet jedoch nicht die Aufhebung aller Regeln, und die Gewerkschaften werden jeden Versuch einer Deregulierung ablehnen«, fügte er hinzu.
Ein flexibleres Wettbewerbsrecht, das Fusionen einfacher zulässt, birgt unbestreitbar Risiken. Die derzeitigen strengen Regeln, die Brüssel anwendet, gelten auch für auswärtige Firmen auf europäischem Boden. Sie sind so zugleich ein wirksames Instrument zum Schutz hiesiger Unternehmen und Arbeitsplätze. Der französische Vorschlag, grundsätzlich den Weltmarkt als Referenz zu nehmen, würde dieses Instrument in seiner Wirksamkeit beschneiden. Eine Möglichkeit wäre es, differenziertere Kriterien in die Bewertung von Fusionsplänen einfließen zu lassen: zum Beispiel, wenn Unternehmen aus Ländern, in denen es kaum Wettbewerbskontrolle gibt, den entsprechenden Weltmarkt dominieren.