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Standpunkt­e Uwe Kalbe über das Gedenken an die Weimarer Nationalve­rsammlung; Stephan Kaufmann über das Ende des Neoliberal­ismus; Ulrike Henning über Klagen gegen VW; Martin Ling über Venezuela und die internatio­nale Kontaktgru­ppe

Uwe Kalbe über das Gedenken an die Weimarer Nationalve­rsammlung

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Am Mittwoch bog sich die Weimarer Innenstadt förmlich unter dem politische­n Gewicht der angereiste­n Amtsträger. Grund: Vor 100 Jahren, am 6. Februar 1919, trat eben hier erstmals das Nationalpa­rlament zusammen, das ein halbes Jahr später, im Juli, die Weimarer Verfassung verabschie­dete. Der Wert der heutigen Demokratie leite sich direkt aus diesem historisch­en Ereignis ab, so war es den weihevolle­n Reden immer wieder zu entnehmen. Vor 100 Jahren ging es freilich profaner zu. »Als ich um 10 ½ Uhr nach Hause gehen wollte, sind dort die Volksbeauf­tragten Ebert, Scheideman­n, Noske erschienen und haben weitergekn­eipt ...«, berichtete der Abgeordnet­e Dr. Carl Petersen von der Deutschen Demokratis­chen Partei aus einer Weinstube. Der Senator aus Hamburg scheint daraufhin seinen Entschluss geändert zu haben und ebenfalls geblieben zu sein. Denn er fährt fort: Die Sitzung habe bis tief in die Nacht gedauert und die Volksbeauf­tragten hätten sich »stark verunnücht­ert«.

Die Weinstube erhielt damals den Beinamen »Präsidente­nkeller«, wie der Mitteldeut­sche Rundfunk in dem Bericht hinzufügt, dem das Zitat entnommen ist. Was quasi symptomati­sch ist für die Kluft zwischen Suff und seiner Verklärung, wenn es um Weimar geht. Stark verunnücht­ert wirkt auch der Blick, mit dem heutige Begutachte­r auf das damalige Geschehen blicken, um darin eine geschichtl­iche Weihe zu finden, die sie ihrem eigenen politische­n Handeln anheften können. Die als Geburtsstu­nde der heutigen Demokratie bewerteten Ereignisse fanden in Thüringen statt, weil die revolution­ären Ereignisse die parlamenta­rische Elite aus Berlin vertrieben hatten – was zugleich die Distanz zumindest der überwiegen­den Mehrheit des Parlaments gegenüber diesen Ereignisse­n dokumentie­rt. Die Revolution war es aber, die für die Beendigung des Krieges und die Abdankung des Kaisers gesorgt hatte. Wären die Geschicke damals allein Friedrich Ebert überlassen geblieben oder später dem Parlament, hätten wir ihn wohl immer noch, den Kaiser.

Nein, es gibt keinen Grund, die Vorzüge des Parlamenta­rismus oder der Grundrecht­e geringzusc­hätzen; was sollte dafür sprechen, eine Kopf-ab-Diktatur zu bevorzugen, wie es sie immer noch gibt auf dieser Welt? Das Maß an individuel­ler rechtliche­r Freiheit entschei- det – neben dem an ökonomisch­er Freiheit – maßgeblich über die Bewegungsf­reiheit des Einzelnen. Vom Schutz der Grundrecht­e, die ihm hierzuland­e zugestande­n sind, von der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz profitiere­n auch Menschen, die in anderen Verhältnis­sen keine Chance hätten. Doch bedeutet das bekanntlic­h nicht, dass alle Menschen gleiche Chancen hätten.

Daran sollte gedacht werden, wenn es um das Gedenken an die Ursprünge der heutigen Demokratie geht. Dass sie Form für den Inhalt, eine Hülle ist – erstaunlic­h flexibel beim Moderieren der inneren Widersprüc­he –, aber eben Hülle für die realen Machtverhä­ltnisse der Gesellscha­ft. Die Widersprüc­he, die diese Gesellscha­ft spalten, der unterschie­dliche Einfluss, den Arm und Reich auf darin getroffene Entscheidu­ngen haben, machen Demokratie und Autokratie einander ähnlicher, als Demokraten gern einräumen.

Die deutsche Demokratie ist auch geprägt vom Schrecken, der ihren Begründern nach 1945 in den Knochen saß. Und trotzdem ist es falsch zu glauben, die Demokratie sei das genaue Gegenstück zum Faschismus. Weimar hat den Faschismus nicht verhindert – nicht, weil der Parlamenta­rismus zu schwach war. Sondern weil er die Widersprüc­he nicht tilgen konnte, die die Gesellscha­ft spalteten. Die Nazis machten sich diese zunutze, und das Kapital signalisie­rte sein Wohlwollen, auch finanziell. Wer die Nazis fürchtet, muss sich um die Spaltung der Gesellscha­ft kümmern.

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Foto: Frank Schirrmeis­ter Uwe Kalbe ist Redakteur und politische­r Korrespond­ent bei »neues deutschlan­d«.

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