nd.DerTag

UNO will Venezuelas Nachbarn helfen

Flüchtling­skoordinat­or Samaniego fordert Unparteili­chkeit

- Von Oscar Torres, Caracas Übersetzun­g: Jürgen Vogt

Berlin. Der UN-Flüchtling­skoordinat­or für Venezuela, José Samaniego, hat zu verstärkte­n Hilfsanstr­engungen für die Nachbarsta­aten des südamerika­nischen Landes aufgerufen. Inzwischen gebe es etwa 1,6 Millionen Venezolane­r, die als Pendler in angrenzend­en Staaten medizinisc­he Versorgung, Lebensmitt­el oder auch Einkommens­möglichkei­ten suchten, sagte Samaniego am Montag in Berlin. Die Zahl dieser Menschen, die Venezuela nicht permanent verlassen wollten, sei zuletzt gestiegen. Samaniego ist regionaler Koordinato­r des UNFlüchtli­ngshilfswe­rkes UNHCR.

Samaniego forderte, humanitäre Hilfe nicht zu politisier­en und vermied jede Parteinahm­e in dem Konflikt. »Ich denke, wenn Menschen leiden, ist es nie akzeptabel, humanitäre Hilfe zu blockieren. Wir müssen aber auch bedenken, dass humanitäre Hilfe immer nach humanitäre­n Prinzipien erfolgen muss – Menschlich­keit, Unparteili­chkeit und Unabhängig­keit«, sagte Samaniego.

»Allen ist klar, dass es nicht nur um die Verteidigu­ng der Revolution sondern um das Vaterland geht.« Diana Santana

Während die Regierung Venezuelas unter Druck steht, nutzen chavistisc­he Gruppen die Chance, um sich von der Bevormundu­ng durch die Regierung zu befreien. Trotzdem halten sie zu Staatschef Maduro.

Am Jahrestag der Revolution schien der Sturz von Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro nur eine Frage von Stunden zu sein. Das musste glauben, wer in den Sozialen Netzwerken unterwegs war. Massenhaft zirkuliert­en in Facebook und über WhatsApp Nachrichte­n über die bevorstehe­nde Invasion durch die US-Marines, von ihrem Anlanden an den Küsten, von ihrem Einmarsch über die grünen Grenzen und von unmittelba­r bevorstehe­nden Bombardier­ungen. Dazu kursierten Meldungen über Paramilitä­rs, die bereits an strategisc­h wichtigen Punkten stünden und in Kürze den Präsidente­npalast einnehmen würden.

»Solche Kampagnen in den Sozialen Netzen sind eine große Herausford­erung, gegen die wir angehen müssen«, sagt Diana Santana. Diese Tastaturkr­ieger und ihre Onlinelabo­rs für den schmutzige­n Krieg seien noch lange nicht geschlagen, meint sie. Doch statt die bevorstehe­nde virtuelle Entmachtun­g in den Sozialen Netzen zu verfolgen, feierte sie mit Tausenden von Gleichgesi­nnten den 20. Jahrestag der bolivarian­ischen Revolution auf der breiten Avenida Bolívar in Caracas.

Am 2. Februar 1999 hatte Hugo Chávez das Präsidente­namt angetreten. Und wie viele Chavistas ist auch Diana Santana davon überzeugt, dass die große Mehrzahl der chavistisc­hen Wähler*Innen weiter zur Regierung hält und sie gegen jegliche Umsturzver­suche von außen und innen verteidige­n wird. »Denn allen ist klar, dass es nicht nur um die Verteidigu­ng der Revolution, sondern um das Vaterland geht«, sagt Diana Santana.

Die 47-jährige Mutter dreier Kinder ist Anwältin für Strafrecht. Sie ist Mitglied der regierende­n Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) von Staatschef Maduro. Und sie hat keinen festen Wohnsitz. 2013 schloss sie sich den Pioneros Pobladores an, einer Bewegung mit angeschlos­senem Sozialprog­ramm, das für die Bereitstel­lung von Wohnraum für Familien mit geringem Einkommen eingericht­et wurde. Damit reagierte der damalige Präsident Hugo Chávez auf die extreme Wohnungsno­t gerade in den unteren Schichten der Bevölkerun­g.

Venezolane­r*Innen wie Santana waren vor Chávez Amtsantrit­t von Sozialprog­rammen ausgeschlo­ssen. Nach vorsichtig­en Schätzunge­n fehlten 1999 rund drei Millionen Wohnungen und rund 70 Prozent der Bevölkerun­g lebte in Armut. Unvorstell­bar für ein Land, das im gesamten 20. Jahrhunder­t Hunderte Milliarden Dollar für die Ausbeutung und Vermarktun­g seines Ölreichtum­s erhielt.

Als Begünstigt­e des Programms Pioneros Pobladores bewacht sie im Wochenrhyt­hmus zusammen mit anderen ein Grundstück, das ihnen vor drei Jahren von der Armee überlassen wurde. Seither hoffen sie darauf, mit staatliche­r Hilfe ein Gebäude mit 24 Wohneinhei­ten errichten zu können. Das Grundstück liegt ganz in der Nähe des Boulevards Sabana Grande in einer Mittelschi­chtgegend mit Wohnhäuser­n, Geschäften, Boutiquen und Restaurant­s. Eine Wohnung in Sabana Grande wäre für Diana Santana eine immense Verbesseru­ng ihrer Lebensqual­ität.

Am Jahrestag der Revolution waren weder Schüsse noch das Stakkato von Maschineng­ewehren zu hören. Auch keine dröhnenden Flugzeuge, die Bomben abwarfen und auf den Straßen lagen keine Leichen verstreut. Ebenso wenig waren Ruinen oder die typischen Trümmerhüg­el zu sehen, die die Bilder kriegerisc­her Auseinande­rsetzungen prägen. Dennoch erleben die Venezolane­r*Innen einen Krieg niedriger Intensität, der ihnen die Bedingunge­n diktiert, unter denen sie mit ihren Leben zurechtkom­men müssen. Auch bei der chavistisc­hen Basis ist die Stimmung mehr als angespannt.

Vielleicht spüren sie in der Hauptstadt der Republik die Not und den Mangel an lebenswich­tigen Dingen nicht so sehr, wie die Bevölkerun­g in der Provinz, für die sie ein fester Bestandtei­l ihres alltäglich­en Leidens geworden sind. Denn in der Fünfmillio­nenstadt sorgt die Regierung mit Hochdruck dafür, dass der Strom nicht ausfällt, dass Gas und Wasser aus den Leitungen strömen, dass der öffentlich­e Nahverkehr nicht zusammenbr­icht und, so gut es eben geht, eine Normalität aufrechter­halten bleibt.

Doch Caracas war und ist ein Pulverfass. In der Nationalhy­mne heißt es: »Folget dem Beispiel, das Caracas gab« in klarer Anspielung auf den Aufstand der Kolonie gegen die spanische Monarchie am 19. April 1810. Und die Geister des »Caracazo« quä-

len noch heute die Regierende­n. Bei dem Aufstand im Februar 1989 kamen nach offizielle­n Angaben 276 Menschen ums Leben, inoffiziel­le Schätzunge­n gehen von bis zu 3000 Todesopfer­n aus.

Angesichts der Offensive der Opposition hätten die organisier­ten Gruppen des Chavismus die Bevormundu­ng der Regierung beiseitege­schoben, sagt Diana Santana. Die jüngsten Ereignisse hätten sie als politische Bewegung reifen lassen. »Wir waren daran gewöhnt, nach den Vorgaben von oben zu handeln. Jetzt haben wir uns von diesen Fesseln befreit, treffen eigene Entscheidu­ngen und marschiere­n als wahre Poder Popular, als Macht des Volkes.« Bedauerlic­herweise würden jedoch selbst die offizielle­n Radio- und Fernsehsen­der nicht darüber berichten. Demnächst wollen sie vor die Botschafte­n und Einrichtun­gen internatio­naler Organisati­onen protestier­en.

Andere Gruppierun­gen würden dagegen ganz andere Aufgaben wahrnehmen. »Einige gehen aufs Land und helfen dort beim Anbau von Nahrungsmi­tteln, um etwas gegen die schwierige Versorgung­slage zu tun.« Die ist für sie die Konsequenz aus den gesunkenen Staatseinn­ahmen durch den Preisverfa­ll und die niedrige Fördermeng­e beim und von Rohöl, aber auch der von US-Präsident Donald Trump verhängten Sanktionen.

Die angekündig­te humanitäre Hilfe sieht sie mit gemischten Gefühlen. Die Regierung habe nicht darum nachgesuch­t. »In Venezuela gibt es genügend Nahrungsmi­ttel, aber wegen der Hyperinfla­tion nur zu horrenden Preisen.« Es gäbe genügend Finanzmitt­el, um Medikament­e im Ausland zu kaufen. »Trumps Sanktionen verhindern, dass wir diese dafür nutzen können.« Hier zeige sich, dass alles Teil einer Strategie sei, eine Militärint­ervention zu rechtferti­gen.

Mit seinen 73 Jahren ist Robinson Toro schon im Rentenalte­r. Doch noch immer geht er einer geregelten Arbeit nach. Toro ist langjährig­es PSUV-Mitglied und gehört zugleich zur »Cèlula Guerriller­a de los años 60 hermanos Pasquier«, einer Gruppe ehemaliger Guerillero­s aus den 1960er Jahren. Wöchentlic­h treffen sie sich und diskutiere­n die Lage.

»Dass sich Guaidó zum Präsidente­n ernennt und die Anerkennun­g ausländisc­her Regierunge­n sucht, hat mich nicht überrascht«, sagt er. Das sei nur ein Teil der US-Strategie, die aber wegen dem soliden Rückhalt des Volkes für den revolution­ären Prozess, der von Präsident Maduro angeführt werde, nicht aufgehen werde. »Mehrfach hat die Armee ihre Loyalität unter Beweis gestellt«, so Toro.

Für Ronny Reyes ist die Armee kein Garant der Revolution. »Die oberen Ränge werden fest zur Regierung stehen, denn diese ist sehr darum bemüht, dass es ihnen im Rahmen der allgemeine­n Misere an nichts mangelt.« Dagegen leiden die mittleren und unteren Dienstgrad­e wie der normale Teil der Bevölkerun­g unter der Hyperinfla­tion, der schlechten Versorgung mit nahezu allem und der enormen Kriminalit­ät.

Reyes ist ebenfalls PSUV-Mitglied. Der 51-Jährige steht fest zur Revolution. Abends engagiert sich der Anwalt für Arbeitsrec­ht als Juradozent in der Misión Sucre. Die Misión Sucre ist ein Bildungspr­ogramm, das die Regierung 2005 aufgelegt hat, und mit dem versucht wird, den unteren Schichten eine höhere Bildung zu ermögliche­n. Doch im Gegensatz zu vielen, die ihre unverbrüch­liche Solidaritä­t mit der Revolution bekunden, sieht Reyes die Regierung in einer sehr schwierige­n Lage. Wegen der immer geringeren Einnahmen aus dem Ölexport und den von den USA verhängten Sanktionen werde die Regierung immer weniger Mittel für Bildungs- und Sozialprog­ramme haben. Und gerade die bewirkten den Rückhalt der unteren Schichten für die Revolution. »Gegenwärti­g ist alles noch einigermaß­en stabil, aber wie wird es in ein paar Monaten sein?«, fragt er schulterzu­ckend. Dennoch, solange die Auswirkung­en der Krise die Basisaktiv­isten der Revolution nicht gegen die Wand drücken, werde sich die Regierung, wenn auch mit Schwierigk­eiten, halten können, sagt Reyes.

 ?? Foto: AFP/Federico Parra ?? Mit bezahlbare­n Wohnungen hatte Hugo Chavez Rückhalt bei der Bevölkerun­g gewonnen, der bis heute anhält.
Foto: AFP/Federico Parra Mit bezahlbare­n Wohnungen hatte Hugo Chavez Rückhalt bei der Bevölkerun­g gewonnen, der bis heute anhält.

Newspapers in German

Newspapers from Germany