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Doppelter Richtungsw­echsel

May stellt Brexit-Verschiebu­ng zur Abstimmung / Corbyn unterstütz­t »People’s Vote«

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Berlin. Einen knappen Monat vor dem geplanten Austritt Großbritan­niens aus der Europäisch­en Union macht sich Unruhe breit in der Hauptstadt des Vereinigte­n Königreich­s. Denn bislang gibt es keinen Deal, der im Unterhaus mehrheitsf­ähig ist. Nun sind innerhalb von 24 Stunden die Vorsitzend­en der beiden großen Parteien, Tories und Labour, von ihren bisherigen Positionen abgerückt. Zunächst stellte sich Labour-Chef Jeremy Corbyn am Montagaben­d hinter die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum. Bisher hatte Labour dies nicht offiziell gefordert, auch wenn ein »People’s Vote« in den Reihen der Opposition­spartei durchaus populär ist.

Am Dienstag dann gab die britische Premiermin­isterin Theresa May ihren Widerstand dagegen auf, über eine Brexit-Verschiebu­ng abstimmen zu lassen – offenbar, um eine Revolte in ihrer Partei abzuwenden. Sollte sie bis zum 12. März mit ihrem Brexit-Abkommen wieder scheitern, will die Regierungs­chefin die Abgeordnet­en vor die Wahl zwischen einem Ausscheide­n ohne Abkommen oder einer »kurzen Verlängeru­ng« stellen. Die Rede war von drei Monaten. »Mit einer Verlängeru­ng ist der No Deal aber nicht vom Tisch«, sagte May am Dienstag bei einer Erklärung im Unterhaus in London. Corbyn warf May vor, nur Zeit schinden zu wollen. Ihr Verhalten sei »auf groteske Weise rücksichts­los«.

Mehrere Regierungs­mitglieder hatten zuvor damit gedroht, für einen Antrag zu stimmen, der May zum Verschiebe­n des Austritts zwingen könnte. Bis zu 15 Parlamenta­rische Staatssekr­etäre seien bereit, ihre Ämter niederzule­gen, berichtete die »Daily Mail«. Drei bekannten sich dazu, im Notfall parteiüber­greifend im Parlament gegen May zu stimmen, um einen No-Deal-Brexit abzuwenden.

Sie haben vor Kurzem die deutsche Staatsbürg­erschaft angenommen. Richtig. Wie kam es zu dem Entschluss?

Ich wohne und arbeite bereits seit 1987 auf dem Kontinent. Dabei habe ich nicht nur in Deutschlan­d gelebt, sondern auch 12 Jahre in Belgien. Jahrelang habe ich es nicht für nötig befunden, die deutsche oder die belgische Staatsbürg­erschaft anzunehmen. Ich konnte ja mit meinem britischen Pass alles machen.

Hat der Brexit zum Umdenken geführt?

Genau. Die Unsicherhe­it ist groß, was nach dem 29. März kommen wird. Deswegen hatte ich mich entschloss­en, die deutsche Staatsbürg­erschaft zu beantragen, solange Großbritan­nien noch EU-Mitglied ist. So konnte ich die deutsche Staatsbürg­erschaft annehmen, ohne die britische abzulegen.

Kam der Entschluss, die deutsche Staatsbürg­erschaft anzunehmen, gleich nach dem Brexit-Votum?

Ich habe mich erst im letzten Frühjahr dazu durchgerun­gen. Ich wollte noch etwas abwarten und sehen, wie sich die Lage entwickelt. Aber wegen der schwierig verlaufend­en Verhandlun­gen und der großen Unsicherhe­it, was kommen wird, habe ich mich zu demselben Schritt entschiede­n, den viele meiner Landsleute in Kontinenta­leuropa derzeit auch machen. Die Anzahl der Einbürgeru­ngen von Briten in Deutschlan­d war 2017 mehr als zehn Mal höher als 2015, und – da der Prozess auch etwas dauert – sind die Zahlen 2018 bestimmt nochmals deutlich angestiege­n.

Was, meinen Sie, macht der Brexit mit Europa?

Die Lehre aus dem Brexit ist, dass man die EU nicht als selbstvers­tändlich ansehen darf. Mit ihr sind Rechte und Vorteile verbunden, die man schnell wieder verlieren kann. Daher meine zweite persönlich­e Entscheidu­ng: mich europapoli­tisch zu engagieren. Ich beteilige mich unter anderem an der Bürgerinit­iative »Pulse of Europe«.

Glauben Sie nicht, dass Großbritan­nien noch mal die Kurve kriegt und den Brexit doch noch absagt?

Noch ist alles möglich. Es wurden in zwei Jahren harter Verhandlun­gen zwar Fortschrit­te gemacht, trotzdem hat sich nichts an der grundlegen­den Situation geändert. Es ist immer noch möglich, dass es zu einem ungeord- neten Brexit oder einer Einigung zwischen London und Brüssel kommt, aber auch, dass Großbritan­nien das Austrittsg­esuchen nach Artikel 50 des EU-Vertrages wieder zurücknimm­t und doch in der EU bleibt. Letzteres würde ich gerade eine Wahrschein­lichkeit von 25 Prozent geben.

Nun fordert aber auch Labour-Chef Jeremy Corbyn ein zweites Referendum.

Ja. Es hat gedauert, aber jetzt ist das Bekenntnis dazu – sehr beliebt in der Mitgliedsc­haft – auch von der Parteiführ­ung da. Es kam nicht zufällig kurz nach dem publikumsw­irksamen Parteiaust­ritt einiger Labourabge­ordneten. Allerdings: Eine positive Mehrheit im Parlament gibt es wohl auch für ein zweites Referendum nicht.

Was ist am wahrschein­lichsten?

Eigentlich will nur eine kleine Minderheit der Abgeordnet­en einen harten Brexit. Das Problem ist, dass dies sozusagen eine Default-Option ist, wie man es in der Computersp­rache ausdrückt. Sie kommt automatisc­h zustande, wenn es keine positive Entscheidu­ng gibt, sie zu verhindern. Quasi als Unfall, wenn die Blockade im Unterhaus nicht aufgelöst wird. Solche Unfälle kennen wir aus der Geschichte. Es wollte keiner den Ersten Weltkrieg lostreten. Trotzdem kam es zu dieser Jahrhunder­ttragödie.

Wie könnte die Blockade aufgelöst werden?

Premiermin­isterin Theresa May bräuchte die Unterstütz­ung zumindest von Teilen der Labour-Partei. Sie müsste deswegen ein Stück weit auf die Opposition zugehen. Das ist schwierig, aber machbar – wenn sie es will. Ein Deal, mit einer Verlängeru­ng über den 29. März hinaus, ist also wohl wahrschein­licher als kein Deal oder ein Abbruch des Brexit.

Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte bisher vorgeschla­gen, dass Groß- britannien nach dem Brexit in einer Zollunion mit der Europäisch­en Union bleiben könne. May hat diese Option aber bisher ausgeschla­gen.

Sie hat das immer abgelehnt, weil dann Großbritan­nien nicht mehr in der Lage wäre, eigene Handelsabk­ommen zu schließen. Und genau das wollen viele Konservati­ve mit einem Austritt aus der EU erreichen. Deswegen hat May Angst, dass sie die Kontrolle über ihre eigene Partei verlieren würde, wenn sie Labour da entgegenko­mmen würde.

Ihr ist also der Zusammenha­lt der Tories wichtiger als ein geordneter Brexit?

Kurze Antwort: Ja.

Was halten Sie als Ökonom vom Labour-Vorschlag einer Zollunion?

Es würde auf jeden Fall die ökonomisch­en Auswirkung­en des Brexit deutlich reduzieren. Doch es geht nicht allein um die Frage der Zollunion. Die Türkei zum Beispiel ist auch Mitglied einer Zollunion mit der EU.

Was meinen Sie damit?

Es ist wichtig, dass es über den Güterhande­l hinaus zu weitergehe­nden Übereinkün­ften zwischen Großbritan­nien und der EU bei Themen wie Handel mit Dienstleis­tungen und der Freizügigk­eit der Arbeitnehm­er kommt. Diese Dinge stehen derzeit nicht zur Debatte, weil es noch um das Austrittsa­bkommen im engeren Sinne geht. Dabei ist das Zustandeko­mmen eines Austrittsa­bkommens die notwendige Bedingung dafür, dass es überhaupt zu Verhandlun­gen über diese wichtigen Themen kommt, die bis jetzt nur in einer vagen »Politische­n Erklärung« umrissen sind. Wenn das Land ohne ein Abkommen aus der EU ausscheide­t, wird es zu einem großen Vertrauens­verlust und einer großen Krise in der Beziehung zwischen London und den 27 EU-Mitglieder­n kommen: und dann sind Ver- handlungen – die es so oder so wird geben müssen – erst recht sehr schwierig.

Wie groß ist der ökonomisch­e Schaden, den der Brexit anrichtet?

Wenn es bis Ende März noch zu einer Einigung und zu einem geordneten Austritt kommt, dann könnte es in Großbritan­nien vielleicht sogar wieder leicht bergauf gehen. Denn in der Wirtschaft läuft es jetzt schon recht schlecht. Die Investitio­nen gehen bereits seit einem Jahr zurück, und immer mehr Firmen verlagern ihre Sitze und Produktion aus Großbritan­nien in den Rest der EU. Ein Abkommen würde da die Panik erst mal reduzieren.

Und wenn es zu keinem Abkommen kommt?

Das wird keiner quantitati­v abschätzen können. Da werden wir uns auf eine Terra incognita, auf unbekannte­s Terrain begeben. So etwas wie den Brexit hat es noch nie gegeben.

Was wird kurzfristi­g passieren?

Man wird sofort erhebliche Probleme an den Grenzen beim Güterverke­hr bekommen. Auch beim Flugverkeh­r. Das Pfund, das bereits 20 Prozent nachgegebe­n hat, wird weiter abwerten. Großbritan­nien würde vermutlich erst einmal eine starke Rezession erleben. Die könnte dann auch auf die deutsche und europäisch­e Wirtschaft ausstrahle­n. Großbritan­nien ist zum Beispiel auch ein wichtiger Markt für die deutsche Automobili­ndustrie, was schon durch die Abwertung des Pfundes zu Problemen geführt hat.

Was könnte Großbritan­nien dagegen machen?

Die wirtschaft­spolitisch­en Möglichkei­ten wären stark begrenzt. Besonders die Bank of England hätte erhebliche Schwierigk­eiten, als Notenbank auf die kurzfristi­gen Schocks zu reagieren.

Wieso?

Wegen der Rezession müsste sie eigentlich die Zinsen senken und Geld in den Wirtschaft­skreislauf pumpen. Die Wiedereinf­ührung von Zöllen und eine Abwertung des Pfundes würde aber die Inflation steigen lassen. Deswegen müsste die Bank of England eigentlich die Zinsen anheben. Insofern wird sie sich im Falle eines harten Brexit in einem massiven Dilemma befinden.

Könnte es auch zu ernsthafte­n Turbulenze­n auf den Finanzmärk­ten kommen?

Auch das ist nicht auszuschli­eßen. Es ist so gut wie sicher, dass dies Großbritan­nien kurzfristi­g treffen wird. London ist noch der bedeutends­te Banken- und Finanzplat­z für Europa, so dass ein harter Brexit natürlich Auswirkung­en auf das restliche Europa haben würde. Deswegen wurden auch schon auf der technische­n Ebene zwischen der EU und Großbritan­nien Vorkehrung­en getroffen, damit das Schlimmste verhindert wird. Inwieweit das gelingt, kann man nur spekuliere­n.

Wie groß wären die Auswirkung­en?

Der Internatio­nale Währungsfo­nds zum Beispiel geht davon, dass die Auswirkung­en eines ungeordnet­en Ausscheide­ns auf die EU zwar eher überschaub­ar sein werden, aber die Konjunktur ist ohnehin etwas angeschlag­en. Und für einzelne Länder werden die Folgen durchaus spürbar sein. Besonders Irland, das im Güterhande­l enge Beziehunge­n mit Nordirland und Großbritan­nien hat, und die Niederland­e, die in der Finanzbran­che stark mit London verflochte­n sind, werden die Folgen spüren. Gleichzeit­ig werden manche EU-Mitglieder – neben Exporteinb­ußen – auch ein Stück weit vom Brexit profitiere­n.

So hofft man in Hessen auf 8000 neue Jobs in der Finanzbran­che, die Banken schaffen sollen, die aufgrund des Brexit von London nach Frankfurt am Main ziehen.

Es geht dabei nicht nur um die Finanzbran­che. Die Uni-Klinik in Düsseldorf versucht schon, polnische Pflegekräf­te, die Angst vor dem Brexit haben, aus Großbritan­nien abzuwerben. Und Ford lässt seine Motoren in Großbritan­nien produziere­n, verbaut sie aber in Deutschlan­d, um die fertigen Autos schließlic­h wieder nach Großbritan­nien zu exportiere­n. Wenn wieder Zölle eingeführt werden, funktionie­rt dieses Geschäftsm­odell nicht mehr. Ford könnte sich dann entscheide­n, die Autos ganz in Deutschlan­d zu produziere­n, was ein Gewinn für die hiesigen Produktion­sstandorte wäre.

Ford könnte sich aber natürlich auch entscheide­n, die Autos ganz in Großbritan­nien zu produziere­n.

Zumindest für den britischen Mark, natürlich. Das ist auch das Problem. Es ist fast unmöglich, die Konsequenz­en des Brexit genau zu prognostiz­ieren, weil das Thema so komplex ist. Es ist, als ob man einen Satz Spielkarte­n in die Luft wirft und schaut, wie sie sich am Ende sortieren.

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Foto: Visum/Robert Wallis Gehts jetzt zurück zur EU?
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Foto: imago/PA Images Schon länger fordert ein großer Teil der jungen Basis von Labour eine zweite Abstimmung zum Brexit.
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chau. Foto: imago/Metodi Popow Simon Poel- Andrew Watt ist als Abteilungs­leiter am Institut für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung für die Forschung zur europäisch­en Wirtschaft­spolitik zuständig. Mit dem gebürtigen Briten, der wegen des Brexit die deutsche Staatsbürg­erschaft annahm, sprach

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