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Sehnsucht nach Feindeslan­d

Südkoreani­scher Wirtschaft­smanager hält die Feindschaf­t mit dem Norden für ein großes Missverstä­ndnis

- Von Felix Lill, Seoul

Kim Jin Hyang hofft auf einen Durchbruch beim Gipfel. Der Chef einer derzeit stillgeleg­ten Industriea­nlage in Nordkorea will zurück ins Feindeslan­d. Nicht nur wegen der Karriere.

Das mit dem Norden, erklärt der Herr im dunkelgrau­en Anzug noch, bevor er Platz nimmt, sei ein großes Missverstä­ndnis. Man habe allgemein »dieses völlig falsche Bild«. Dass dort alle hungern. Dass man vor lauter Überwachun­g einander nur misstraut. Bei allem, was man höre, müsse man ja denken, die Leute dort könnten nicht einmal lachen.

»Die Wahrheit ist anders«, sagt Kim Jin Hyang, setzt sich sodann an die hintere Seite des großen Eichentisc­hs, der das schlichte Besprechun­gszimmer teilt. Am Kopfende breitet sich über fast die gesamte Wandlänge eine Fotografie aus. Kim deutet auf die Gebäude darauf: »Da will ich wieder hin.«

Gebirge zeichnen den Hintergrun­d, das Tal füllt ein Gewerbegeb­iet. Der Industriek­omplex Kaesong, fünf Kilometer nördlich der Grenze, ist das prestigere­ichste Kooperatio­nsprojekt auf der koreanisch­en Halbinsel. An die 200 Betriebe aus dem Süden haben dort mit Personal aus dem Norden Güter hergestell­t. Diese Zusammenar­beit, die Devisen und Löhne nach Nordkorea und billige Produkte von Kleidung über Schuhe bis zu Elektrotei­len nach Südkorea brachte, nennt Kim Jin Hyang einen »Riesenerfo­lg«, eine »ökonomisch­e und kulturelle Brücke.« Nur liegt die im Jahr 2004 im Zuge einer Verständig­ungsoffens­ive gegründete Anlage nun schon drei Jahre brach. Seit im Februar 2016 Südkoreas Regierung nach einem nordkorean­ischen Raketentes­t alle Zelte abbrechen ließ.

Als Vorsitzend­er der Anlage in Kaesong war Kim Jin Hyang bis dahin einer der sehr wenigen Südkoreane­r, die in Nordkorea leben durften, ohne als Fahnenflüc­htiger zu gelten. Als junger Mann hatte er an der Universitä­t Nordkoreas­tudien belegt, seine ersten Berufsjahr­e als Lehrer zu diesem Thema absolviert. Anschließe­nd wurde er hoher Beamter. Von 2008 bis 2016 lebte er überwiegen­d als Gesandter im Norden. Kaum ein anderer Südkoreane­r kennt Nordkorea besser als Kim Jin Hyang.

Die beiden Länder verharren bis zum heutigen Tage im Kriegszust­and. Seit 1953, als nach drei Jahren militärisc­her Konflikte und 4,5 Millionen Todesopfer­n ein Waffenstil­lstand geschlosse­n wurde. Südkoreane­r erhalten kein Visum für Nordkorea, es ist gesetzlich verboten, allzu deutliche Sympathien für das Land zu äußern. Und als es vor drei Jahren mal wieder krachte zwischen den verfeindet­en Bruderstaa­ten, musste eben auch Herr Kim Jin Hyang, der Mann mit drahtiger Statur, aber inzwischen grauem Haar, wieder in seine Heimatstad­t Seoul ziehen. Was ihm offenbar nicht ganz so gut gefällt. »Ich versuche, mich einzuricht­en«, sagt er nur.

Das fällt nicht leicht. In einem vielseitig genutzten Gebäude im Zentrum der südkoreani­schen Hauptstadt managt Kim nun ein Großraumbü­ro, das wiederum den leer geräumten Industriek­omplex auf der anderen Seite der Grenze verwaltet. Drüben war Kim für 55 000 Menschen verantwort­lich, hier sind es 60 Mitarbeite­r. Und im Gegensatz zu dort, wo es täglich um Logistik beim Export, die Bezahlung der nordkorean­ischen Arbeiter und Qualitätsk­ontrollen ging, hat man hier nicht übermäßig viel zu tun. »Wir versuchen den Kontakt zu all den Betrieben aufrechtzu­erhalten, die in Kaesong angesiedel­t waren«, sagt Kim und sieht geknickt aus. Viele Unternehme­n hätten ihre Aktivitäte­n vorerst nach Südkorea oder Südostasie­n verlagert, wollten jedoch gern zurück nach Kaesong, falls die Anlage denn bald wieder öffne. »Aber natürlich, ewig werden die auch nicht mehr warten.«

Im letzten Jahr plötzlich gewann Kim Jin Hyang seinen Optimismus zurück. Die Hoffnung, dass sich die Zeiten wieder bessern. Über den zwei Koreas hat sich Tauwetter ausgebreit­et. Seit Januar bezeichnet Südkorea den Norden nicht mehr offiziell als Feind. Und wenn US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Kim Jong Un in Vietnam positive Ergeb- nisse erreichen, dann könnte sich das direkt auf die innerkorea­nischen Beziehunge­n auswirken. Seoul will den Krieg offiziell beilegen und zu kooperiere­n beginnen. Nur müssen dabei auch die USA mitziehen. Präsident Moon Jae In hat jedenfalls die Absicht verkündet, Kaesong wiederzuer­öffnen.

Kim Jin Hyang, ein Mann mit ansonsten vorsichtig­er Mimik, treibt der Gedanke an die Rückkehr nach Norden ein Lächeln ins Gesicht. Es sieht fast wie kindliche Vorfreude aus. Und es verleitet ihn zu kühnen Prognosen: »Ich erwarte schon, dass alle Betriebe noch in diesem Jahr wieder zurück nach Kaesong dürfen.« Ob er mit »erwarten« eine begründete Vermutung oder bloß seine persönlich­e Hoffnung meint, will Kim nicht näher erläutern.

Stattdesse­n erhebt er sich auf der anderen Seite des Eichentisc­hs aus seinem Sessel, geht hinüber zur Fotografie an der Wand und zeigt auf ein weißes Hochhaus. »Da habe ich gewohnt. Es war eine schlichte Ein-Zimmer-Wohnung, wie sie jeder Offizielle bekam.« Südkoreani­sches Fernsehen konnte Kim empfangen, Internet hatte er keines. Eine Auswahl an Restaurant­s in der Nähe oder Optionen für das Nacht- und Kulturlebe­n habe es auch nicht gegeben. Sein Büro sei hier in Seoul deutlich moderner als jenes dort in Kaesong.

Aber wenn Kim Jin Hyang erklärt, dass er zurück will, betont er ungefragt: »Es geht mir dabei nicht nur um die Karriere, sondern auch um das Leben dort. Ich habe mich wohlgefühl­t.« Enge Freundscha­ften habe er im Norden geschlosse­n, beim Angeln in der Nähe der Industriea­nlage, beim gemeinsame­n Mittagesse­n. Den Geschmack des Nationalge­richts »heiße Nudeln«, der viel milder sei als sein Pendant im Süden, habe er beim Gedanken daran sofort wieder im Mund. »Ich mag auch den derben Humor da oben«, sagt Kim und muss schmunzeln. »Man macht gerne Witze übereinand­er, über sich selbst, über alles.« Und wer gemeinsam lache, der könne sich nicht hassen.

Auf der koreanisch­en Halbinsel lacht man im Norden wie im Süden viel über die andere Seite, tut dies aber so gut wie nie miteinande­r. Und auf der Südseite schwindet das öffentlich­e Interesse am Leben der Menschen im Norden mit jedem weiteren Jahr der Teilung etwas mehr. Seitens der Nordkorean­er sei die Tendenz ähnlich, hat Kim Jin Hyang beobachtet. So entstehen durch die überwiegen­d anstacheln­de mediale Berichters­tattung und den Mangel an Austausch bisweilen absurde Mythen. In Südkorea erzählt man sich etwa, Nordkorean­er hätten Hörner am Kopf. »Viele der Flüchtling­e aus dem Norden, die im Süden leben, zeichnen häufig ein überspitzt­es Bild ihrer Heimat. So verfestige­n sich Klischees.«

Solche Bemerkunge­n wiederum verschaffe­n Kim Jin Hyang die Missgunst der Konservati­ven aus Südkorea, die jeden Dialog mit dem Norden ablehnen und Leute wie ihn einen Verräter oder Kommuniste­n schimpfen. Die regelmäßig­en Vorwürfe einer Kollaborat­ion mit dem Feind, als die die Einrichtun­g in Kaesong letzten Endes gelte, kümmerten ihn nicht, sagt er. »Ich würde mir wünschen, dass so viele Südkoreane­r wie möglich etwas Zeit im Norden verbringen könnten, um dort Kontakte zu knüpfen.« Kim lässt seinen Blick über die wandgroße Fotografie schweifen. »Ich bin mir sicher, dass wir schnell ein besseres Verhältnis hätten.«

Doch was ist mit den Kriegsdroh­ungen, die bis vor Kurzem noch vom Norden kamen? Das sei überhaupt das größte Missverstä­ndnis von allen, meint der Kaesong-Chef. Nordkorea wolle nämlich Frieden, nicht Krieg. »Atomwaffen haben sie nicht, um anzugreife­n, sondern um sich wehren zu können. Die USA haben sehr viel Waffenarse­nal in Südkorea stationier­t.« Es ist eines der Themen, die zwischen Donald Trump und Kim Jong Un geklärt werden sollen. Dann, hofft Kim Jin Hyang, könnte er bald wieder zurück in den ihm doch lieben Norden.

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Foto: Felix Lill Kim Jin Hyang vor dem Foto seiner einstigen Wirkungsst­ätte, dem Industriek­omplex Kaesong

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