Das Drama der Adelskultur
Micheil Dshawachischwili über eine Frau zwischen zwei Männern und die »Revalzia« in Georgien
Georgien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2018: Man staunte, wie viele Bücher auf Deutsch es plötzlich aus diesem Land zwischen Europa und Asien gab. Aber was heißt plötzlich? Der POP Verlag Ludwigsburg betreibt seit Langem eine »Kaukasische Bibliothek« – nur ist das vielen nicht aufgefallen. Unter dem Berg von Neuerscheinungen wird eben manches Interessante begraben.
Micheil Dshawachischwilis Roman »Zuflucht beim neuen Herrn« hätte ich vermutlich nicht kennengelernt, wenn Steffi Chotiwari-Jünger, die ihn zusammen mit ihrem Mann Artschil übersetzte, ihn mir nicht mit so warmen Worten ans Herz gelegt hätte. Ein mitreißender Text, wirklich, viel tiefgründiger, vielschichtiger als die Verlagsankündigung vermuten lässt. Der Vorgang, dass sich eine Frau zwischen zwei Männern entscheiden muss, birgt ein sozialpolitisches Drama, das auch für den Autor selber tragisch endete.
Micheil Dshawachischwili (1880 – 1937) habe sich von einem Vorfall inspirieren lassen, der zu Beginn der 20er Jahre in Georgien für Aufsehen sorgte, schreibt Steffi ChotiwariJünger im Nachwort. Der wird im Roman auch erwähnt: »Die Fürstin Elisabed Taschiskareli, die an die zehn adlige Bräutigame ablehnte, heiratete im vorigen Jahr einen Metzger, einen blutigen, fettigen, dreckigen Schlächter!« Das geht dem ehemaligen Fürsten Tejmuras Cheristawi durch den Kopf, der zu verstehen sucht, warum seine Frau ihn zugunsten seines einstigen Knechtes Dshaqo verließ. Das Ausrufzeichen kam vom Autor. War auch er womöglich von adliger Herkunft? Tatsächlich: Gibt man seinen Namen in kyrillischer Schrift ins Internet ein, erfährt man, dass er adlige Vorfahren hatte und allein zurückblieb, nachdem Mutter und Schwester von Räubern ermordet worden waren und der Vater kurz darauf starb. Die Armut seines Protagonisten muss er ebenso gekannt haben wie dessen Liebe zu Büchern. Warum er seinen Tejmuras spöttisch »Büchermotte« nennt, ihn zumindest anfangs zu einer geradezu lächerlichen Figur macht, darüber wird der Leser nachzudenken haben.
Die Spannung des Romans rührt aus einem Zwiespalt, mit dem der Autor 1924 nicht alleine war. Wenn uns Tejmuras’ Widersacher Dshaqo beim Lesen mitunter wie eine Karikatur erscheinen muss, erkennt man in ihm doch eine Lebenskraft, die sein »in Daunenbetten aufgewachsener« Herr wohl niemals hatte. Ein »Wildtier«, das nicht einmal richtig spre- chen kann (was die Übersetzer vor einige Herausforderungen stellte), aber ohne zu zögern agiert – durch den Roman dröhnt sein wieherndes Gelächter und sein ständiges Eigenlob: »Genau, haargenau! So einer ist Dshaqo!«
»N-ne-nenn mich nicht mehr Fürst«, stottert Tejmuras, der aus Not auf sein Gut zurückkehrt. Denn jetzt, er weiß es, ist alles Recht aufseiten dieses ungeschlachten Mannes, den er einst als Waise bei sich aufnahm und den er später zum Verwalter seines Gutes machte. In der frühen Sowjetliteratur gab es immer wieder solche plebejischen Gestalten, die ihrer Tatkraft wegen über zaudernde Feingeister triumphierten. Aber der Roman folgt diesem Muster nur zum Teil, was irritierend auf damalige Leser gewirkt haben muss. Tejmuras, sensibel und ganz ins Geistige vergraben, mag sich durch seine Kraftlosigkeit lächerlich machen, aber ist es nicht seltsamerweise er, der die Ideale der Revolution von Gemeinschaft und Gleichheit in sich trägt?
Interessant zu erleben, wie diese Figur von einer komischen zur tragischen wird und wie das Lachen über Dshaqo sich zunehmend in Zorn verkehrt. Gerecht, wenn Knechte gegen ihre Herren aufbegehren. Was aber, wenn sie sich selbst zu Fürsten machen? Dshaqo ist ein Abbild jener brutalen Raffgier, die sich Luft macht, sobald ein früherer rechtlicher Rahmen zerbricht. Spannend, wie der Roman weit über seine Entstehungszeit hinaus ins Heute weist. Eine gerechte Gesellschaft als revolutionäres Ideal – aber große gesellschaftliche Umstürze sind nicht maßvoll und human. Wie der Gutsverwalter Dshaqo sich Tejmuras’ ganzen Besitz unter den Nagel reißt, sich dessen Frau nimmt und sich gegenüber den Bauern selber als Fürst geriert, erstaunt nicht, wenn man vor Augen hat, wie einstige Befreiungs- bewegungen pervertierten. Mögen Intellektuelle aus vermögenden Schichten von leuchtenden Idealen beseelt sein – wenn sich die Möglichkeit ergibt, nimmt sich jeder, was er kann, und die Räuber zu demaskieren, kann gefährlich sein. Da gab Dshawachischwili seinem Roman am Schluss eine ideologiekonforme Wendung: Dass Dshaqo die »Revalzia« falsch verstanden hat, bringen ihm am Schluss die Bauern bei. In ihrer Kommune hat nun auch Tejmuras einen Platz. Vergeblich hatte er versucht, in der Stadt Arbeit zu finden, nun darf er Gleicher unter Gleichen sein. Doch er quält sich, hofft auf die Rückkehr seiner Frau …
Während er immer wieder mit dem ehemaligen Priester Iwane über Gott und die Welt diskutiert, wird man beim Lesen mit Tatsachen und Meinungen über die Wege Georgiens konfrontiert. Ewig mag die Forderung an den Einzelnen sein, sich im Sinne des eigenen Wohlergehens vernünftigerweise den Verhältnissen anzupassen. »Ich soll sch-schweischweigen?«, stottert Tejmuras empört und scheint in diesem Moment dem Autor sehr nahe.
Micheil Dshawachischwili, der schon unter dem Zarenregime zu leiden hatte, trat 1921 in die NationalDemokratische Partei Grusiniens ein, die sich in Opposition zur sowjetischen Regierung befand. Schon 1923 war er verhaftet und zum Tode verurteilt worden und kam nach sechs Monaten Gefängnis durch Fürsprache des Schriftstellerverbandes frei. Doch immer wieder gab es später Verhaftungen und Angriffe. Am 26. Juli 1937 wurde er als »Volksfeind, Spion und Diversant« aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, am 14. August verhaftet und im Beisein Berijas gefoltert, damit er ein »Geständnis« unterschrieb. Am 30. September 1937 wurde er erschossen und seine Witwe in die Verbannung geschickt. Bis Ende der 50er Jahre blieb sein Werk unter Verschluss.
Hinter dem gekonnt übersetzten Text dieses vielschichtigen Romans tun sich Abgründe auf.
Gerecht, wenn Knechte gegen ihre Herren aufbegehren. Was aber, wenn sie sich selbst zu Fürsten machen?
Micheil Dshawachischwili: Zuflucht beim neuen Herrn. Roman. Aus dem Georgischen von Steffi Chotiwari-Jünger und Artschil Chotiwari. Pop Verlag, 375 S., br., 23,50 €.