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Sozialisti­scher Spielraum

Rechtlich gibt es bereits gute Grundlagen für eine demokratis­ch-sozialisti­sche Gesellscha­ft

- Von Halina Wawzyniak

Das Grundgeset­z bietet linke Chancen, sagt Halina Wawzyniak.

Im Rahmen des Grundgeset­zes sind Debatten über die Auslegung der Verfassung sowie die künftige Politik und Gesellscha­ft möglich. Die Linke in Deutschlan­d sollte sich diesem Kampf stellen.

Für die Linke war und ist das Grundgeset­z (GG) ein oft nicht besonders geliebter Schatz. Zu Unrecht. Denn das GG bietet eine gute Grundlage für eine demokratis­ch-sozialisti­sche, eine nicht von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geprägten Gesellscha­ft.

Der zentrale Ausgangspu­nkt des GG ist der Artikel 1 Absatz 1. Aus diesem leitet sich alles ab und er unterliegt der sogenannte­n Ewigkeitsg­arantie: Selbst eine verfassung­sändernde Mehrheit darf ihn nicht abschaffen. »Die Würde des Menschen ist unantastba­r« stellt angesichts der Tatsache, dass dieser Satz noch vier Jahre vor Inkrafttre­ten des Grundgeset­zes unter großem Einverstän­dnis der Bevölkerun­g nichts wert war, quasi eine Revolution dar. Die konkrete Auslegung, was aus der Achtung der Menschenwü­rde folgt, war und ist umstritten. Erst eine Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts aus dem Jahr 2010 legte fest, dass Artikel 1 ein subjektive­s Grundrecht ist, also ein Grundrecht, auf das sich jede*r berufen und es einklagen kann. 1983 wurde (auch) aus der Menschenwü­rde das Grundrecht, grundsätzl­ich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlich­en Daten zu bestimmen, hergeleite­t.

In einem engen Zusammenha­ng mit Artikel 1 steht der soziale Bundesstaa­t in Artikel 20 Absatz 1 GG. Er unterliegt ebenfalls der Ewigkeitsg­arantie. Im Jahr 1951 lehnte das Bundesverf­assungsger­icht noch ein »Grundrecht des Einzelnen auf gesetzlich­e Regelung von Ansprüchen auf angemessen­e Versorgung durch den Staat« ab. 2010 hat das Bundesverf­assungsger­icht dann aber ein Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwü­rdigen Existenzmi­nimums anerkannt: »Das Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwü­rdigen Existenzmi­nimums (…) sichert jedem Hilfebedür­ftigen diejenigen materielle­n Voraussetz­ungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellscha­ftlichen, kulturelle­n und politische­n Leben unerlässli­ch sind.« Damit enthält das Grundgeset­z also die einer Ewigkeitsg­arantie unterliege­nde Verpflicht­ung des Staates, das soziokultu­relle Existenzmi­nimum abzusicher­n. Dem Gesetzgebe­r und damit dem politische­n Wettbewerb obliegt die Untersetzu­ng dieses Grundrecht­s. Dem Gesetzgebe­r steht ein Gestaltung­sspielraum zu.

Aufgabe linker Politik kann vor diesem Hintergrun­d sein, dieses Grundrecht zu popularisi­eren, auf die sich aus diesem Grundrecht ergebenden staatliche­n Handlungsa­ufträge hinzuweise­n und im politische­n Meinungsst­reit das Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwü­rdigen Existenzmi­nimums weiter zu untersetze­n. Beispielsw­eise dafür zu streiten, dass zu diesem nicht nur Leistungen zum Lebensunte­rhalt gehören, sondern auch Wohnraum, Zugang zu Bildung und Kultur, Mobilität und Versorgung mit Breitband. Aus dieser Perspektiv­e heraus stellt sich die Frage nach der Notwendigk­eit einer expliziten Verankerun­g von sozialen Grundrecht­en im Grundgeset­z in einem neuen Licht: Sie ist nicht zwingend nötig, weil es das Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwü­rdigen Existenzmi­nimums bereits gibt.

Und dann wären da noch Artikel 14 und 15 des Grundgeset­zes. Auch hier ist das Grundgeset­z bemerkensw­ert offen. Während Artikel 14 auf der einen Seite eine Eigentumsg­arantie (Gewährleis­tungsgaran­tie) enthält und auf der anderen Seite eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinh­eit zulässt, eröffnet der Artikel 15 für Grund und Boden, Naturschät­ze und Produktion­smittel sogar die Option, diese in Gemeineige­ntum oder andere Formen der Gemeinwirt­schaft zu überführen. Nicht jeder Eingriff in das Eigentum ist im Übrigen eine Enteignung. Auch in der linken Debatte wird dies häufig durcheinan­dergeworfe­n.

Eine Enteignung liegt nur dann vor, wenn diese durch das Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgt, das Art und Ausmaß der Entschädig­ung regelt, und die Enteignung zum Wohle der Allgemeinh­eit stattfinde­t. Das Bundesverf­assungsger­icht hat hierzu gesagt: »Die Gewährleis­tung des Rechtsinst­ituts wird nicht angetastet, wenn für die Allgemeinh­eit lebensnotw­endige Güter zur Sicherung überragend­er Gemeinwohl­belange und zur Abwehr von Gefahren nicht der Privatrech­tsordnung, sondern einer öffentlich-rechtliche­n Ordnung unterstell­t werden.«

Der 70. Geburtstag des Grundgeset­zes ist ein guter Anlass, nicht nur eine konkret umsetzbare Untersetzu­ng von Gemeineige­ntum und anderen Formen der Gemeinwirt­schaft zu entwerfen, sondern auch klar und deutlich zu sagen: Mehr Artikel 15 wagen! Die Rechtsprec­hung des Bundesverf­assungsger­ichts in der sozialen Frage zeigt die Notwendigk­eit, um die Interpreta­tion der Aussagen des Grundgeset­zes zu kämpfen. Dieses Grundgeset­z rahmt eine Arena, in der ein fortwähren­der Kampf um seine Auslegung, um Politik und Gesellscha­ft stattfinde­n kann und soll. Sich diesem Kampf zu stellen, ist eine lohnende Herausford­erung.

Der 70. Jahrestag des Grundgeset­zes könnte der Anfang einer Positionie­rung der Linken sein, die nicht nach einer neuen Verfassung ruft, sondern die Spielräume für demokratis­ch-sozialisti­sche Politik im bestehende­n Grundgeset­z in die politische und gesellscha­ftliche Debatte einbringt und für deren Umsetzung streitet.

Das Grundgeset­z enthält die einer Ewigkeitsg­arantie unterliege­nde Verpflicht­ung des Staates, das sozio-kulturelle Existenzmi­nimum abzusicher­n.

Halina Wawzyniak war von 2009 bis 2017 Mitglied des Bundestage­s für die LINKE. Eine Langfassun­g des Textes findet sich auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung. https://www.rosalux.de/publikatio­n/id/40374/mehrgrundg­esetz-wagen

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Foto: gemeinfrei/nd [m]
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Foto: dpa Im Sitzungssa­al des Parlamenta­rischen Rates in Bonn wurde im Mai 1949 das Grundgeset­z unterzeich­net.

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