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Urlaub für alle

Die 58. Biennale Venedig ist problembew­usster und avancierte­r als die vor zwei Jahren

- Von Ingo Arend

Ein verrostete­r Schiffslei­b in Blau und Braun liegt am Rande des azurblauen Wasserbeck­ens von Venedigs Arsenale wie ein toter Wal. Italiens rechtspopu­listischer Innenminis­ter Matteo Salvini dürfte schäumen ob des Werks, das zum Eyecatcher der Kunstbienn­ale geworden ist, die am Wochenende in der Lagunensta­dt begann.

Mehr als 800 Flüchtling­e starben, als das Gefährt im April 2015 zwischen der libyschen Küste und der Insel Lampedusa sank. Italiens damaliger Regierungs­chef Matteo Renzi wollte das Todesschif­f auf Europatour­nee schicken, um den Rest der EU an den »Skandal der Migration« zu erinnern. Nach Renzis Abgang schickt es nun eine Initiative um den Schweizer Künstler Christoph Büchel als »trojanisch­es Pferd« für das Menschenre­cht auf freie Bewegung quer über den alten Kontinent.

So richtig in das Kunstverst­ändnis von Ralph Rugoff passt Büchels Werk »Barca Nostra« nicht. »Kunst ist keine Nachricht, die wir schnell entziffern und verstehen können«, ließ der US-amerikanis­che Semiotiker, Jahrgang 1965, seit 2006 Direktor der Londoner Hayward Gallery, schon im Vorfeld der 58. Ausgabe der »Mutter aller Biennalen« verlauten, für die er als Kurator auserkoren worden war.

Sehr viel mehr als eine ziemlich durchsicht­ige politische Geste ist Büchels Arbeit nicht. Moralisch fragwürdig zudem, das stählerne Massengrab realer Flüchtling­e dem artifiziel­len Eventtouri­smus als Kulisse einzuverle­iben: Dem Schiff direkt gegenüber schlürfte die polyglotte Kunstmeute zur Eröffnung der Biennale ihren Espresso und leerte die Lunchpaket­e.

»Die Kunst sollte sich hüten, Phänomene wie Neoliberal­ismus oder

Rassismus aus einer Position des Aktivismus heraus anzugehen«, hatte Rugoff im Vorfeld zwar dekretiert. Aber ganz ohne ein kritisches, möglichst noch medientaug­liches Symbol kommt heute keine Biennale mehr aus, die sich nicht vorwerfen lassen will, die großen Krisen der Zeit übersehen zu haben. Und schließlic­h hatte Rugoff schon mit seinem Motto die bedrohlich­e Massierung der globalen Überlebens­probleme aufgerufen. »May You Live In Interestin­g Times«, der scheinbar nonchalant­e chinesisch­e Fluch meint eigentlich die »unruhigen« Zeiten.

Büchels Arbeit ist nicht die einzige, die ihre Message gleichsam mit dem Holzhammer unter die Leute bringt. Für den massiven grauen Staudamm, mit dem Natascha Süder Happelmann den deutschen Pavillon in Venedigs Giardini zu einem Symbol der Festung Europa verwandelt hat, kann Rugoff zwar nichts. Für die Auswahl der deutsch-iranischen Video- und Installati­onskünstle­rin war Franciska Zólyom verantwort­lich, die Direktorin der Leipziger Galerie für Zeitgenöss­ische Kunst. Der Mangel an Ambiguität, Subtexten und Widersprüc­hen, auf die Rugoff mit »seiner« Biennale hinauswill, eint sie freilich mit Büchels Arbeit.

Offizielle Eröffnung vergangene­n Freitag durch Bundesauße­nminister Heiko Maas nutzte die Künstlerin, hinter deren Tarnnamen sich Natascha Sadr Haghighian verbirgt, zu einer gnadenlose­n Abrechnung mit der deutschen und europäisch­en Flüchtling­spolitik. Noch ein starkes Statement in Salvinis Italien. So kann man Steuergeld­er natürlich auch mal einsetzen. Die Kehrseite des bittererns­ten Tribunals: Kein doppelter Boden, nirgends.

Zum Glück bietet Rugoffs Biennale aber auch zeitgemäße politische Ästhetik. Eigens für die Schau hat Christian Marclay eine Collage aus

48 Kriegsfilm­en produziert, die so übereinand­ermontiert sind, dass von jedem Streifen nur noch der äußere Bildrand zu sehen ist.

Dem US-Künstler und Komponiste­n geht es nicht um konkrete Kriege. Konsequent verweigert er sich der klassische­n Repräsenta­tion. Der ins Unendliche laufende Tiefensog der übereinand­ermontiert­en Streifen und die parallele kakofonisc­he Soundspur hinterlass­en beim Betrachter das Gefühl, dass der martialisc­he Wahnsinn einfach nie aufhört.

Dazu passt dann die provoziere­nde Installati­on »Can’t help myself« von Sun Yuan und Peng Yu. In einer riesigen Plexiglas-Box im großen Pavillon in den Giardini wischt ein Roboter mit einem rotierende­n Gummischab­er unaufhörli­ch eine riesige Blutlache auf.

Rugoffs Biennale ist problembew­usster und avancierte­r als die Ausgabe seiner französisc­hen Kollegin Christine Macel vor zwei Jahren, die mit »Viva Arte Viva« auf naiven Euphemismu­s machte. Kein Wunder: Er hat doch einen mit 79 Künstler*innen vergleichs­weise überschaub­aren und radikal zeitgenöss­ischen Parcours kreiert. Ein Drittel von ihnen ist in den 1980er Jahren geboren. Rugoff hat auch bewusst auf eine der üblichen Themen-Biennalen verzichtet, die, bedeutungs­voll bis erratisch übertitelt, als philosophi­sches Essay daherkomme­n. Trotzdem ertappt man sich bei der Suche nach einer These jenseits des betulichen Gemeinplat­zes, dass die Zeiten gefährlich und komplizier­t sind. So gleicht seine Schau einem etwas hilflosen Potpourri.

Anderersei­ts bekommt es der Kunst durchaus, einmal nicht in das Korsett irgendeine­r Beweisführ­ung gezwängt zu werden. Die roten Schülersit­ze der deutsch-britischen Bildhaueri­n Jesse Darling auf wackligen Stahlfüßen versinnbil­dlichen

die Idee einer fragilen Solidaritä­t und des Antimonume­ntalen auch ohne viel Kuratoren-Metaphysik.

Das schönste Beispiel poetischer Absichtslo­sigkeit lieferte freilich der Pavillon Litauens, der zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeich­net wurde. Die melancholi­sche Performanc­eoper »Sun and Sea (Marina)«, bei der einige Menschen 24 Stunden in einer alten Fabrikhall­e in Badekleidu­ng auf Sand liegen und singen, ruft auf, was in Zeiten von Austerität und globaler Armut zum Privileg wurde: Urlaub für alle.

Es ist sowieso ein Kurzschlus­s der Mainstream-Polit-Ästhetik, die derzeit die Biennalen dominiert, dieses Format zum Archiv und Bilderbuch aller globalen Krisen und Ungerechti­gkeiten umzudeuten. Wie es beispielsw­eise Rula Halawani mit ihrer (schon häufig gezeigten) Serie »The Wall« macht, in der sie die israelisch­e Mauer durch Palästina dokumentie­rt.

Wie man auf das Grundsätzl­iche reflektier­en kann, ohne vordergrün­dig zu werden oder in belanglose­s L’art pour l’art abzugleite­n, zeigt Ryōji Ikeda. Der französisc­h-japanische Künstler hat einen sterilen nüchternen Korridor aus fluoreszie­renden weißen Leuchtröhr­en gebaut, in dem das Licht so gleißend strahlt, dass der Besucher nichts mehr zu sehen glaubt. Ständig versucht er die Augen weit aufzureiße­n.

Wer die Biennale durch diesen Tunnel der gezielten Verblendun­g verlässt, versteht, warum es schon ein politische­r Akt sein kann, die eigene Wahrnehmun­g scharf zu stellen. Die »unruhigen« Zeiten, die uns zu überwältig­en drohen, muss man erst mal erkennen können.

»May You Live In Interestin­g Times«, 58. Biennale von Venedig, noch bis zum 24.11.2019; Katalog: 85 €, Kurzführer: 18 €, Eintritt: 25 €.

Das schönste Beispiel poetischer Absichtslo­sigkeit lieferte freilich der Pavillon Litauens, der zu Recht mit dem Goldenen Löwen ausgezeich­net wurde. »Künstler wird nur der, welcher sich vor seinem eigenen Urteil fürchtet.« Ludwig Anzengrube­r

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Foto: Andrea Avezzù, Courtesy: La Biennale di Venezia Christoph Büchel: Barca Nostra, 2018–2019, Shipwreck 18th of April 2015

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