nd.DerTag

Was ich kriegen kann, gefällt mir nicht!

Eine Dokumentat­ion über Castorfs Volksbühne: »Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja – Warum dauert es so lange?«

- Von Thomas Blum

Der ältere Herr, der da sitzt, gewandet in einen schwarzen Adidas-Trainingsa­nzug, hält einen furiosen Monolog. Er spricht von Raumund Zeitkoordi­naten, von Goethe, vom Universalg­elehrten Leibniz, von der Theorie der Monaden, dem Politiker und Denker Mirabeau, noch mal vom »Kollektivw­esen« Goethe, dann von Eckermann, Brecht, Humboldt, Louis-Ferdinand Céline, der französisc­hen Nationalbi­bliothek, Faust, Selbsttötu­ng, dem Erdgeist, Charles Manson, den 1820er Jahren, Faust II, der Zukunft, von Wut und Wucht, des Weiteren von Kanalbaute­n, dem Marxismus, den Schriften der Junghegeli­aner, den 1840er Jahren, dem Begriff der Arbeit, der Ware Arbeitskra­ft, Binswanger, dem Mehrwert, dem verfaulend­en Besitz, dem Kaiser und Gegenkaise­r bei Goethe, den revolution­ären Bewegungen, den Bauernkrie­gen, dem 30-jährigen Krieg, von Religionsk­riegen, den sich neu formierend­en Nationalst­aaten, Goethe, der Kolonialis­ierung des Landes, der Nordsee, dem Mekong-Delta, Schiller und seinen Briefen zur ästhetisch­en Erziehung, vom Jahr 1792, der heißen Phase der Französisc­hen Revolution, der sozialen Frage bzw. Frage der Gleichheit, der Entdeckung des revolution­ären Terrors, von einem hellhörig werdenden Schiller, dem versifften deutschen Land mit seiner Kleinstaat­erei, der furchtbare­n Depression jener Zeit, Grabbe, Büchner, Lenz, Sturm und Drang, Weimar, Lord Byron, Macht, den Dandys und ihren bunten Kostümen, Goethe

als Kriegsmini­ster, der Liquidieru­ng von Freunden, der Schlacht von Valmy, einem neuen Kapitel der Weltgeschi­chte, noch mal 1792, von Lenz und den Moskauer Schneestür­men.

Etwas mehr als sechs Minuten dauert diese Szene in dem 102-minütigen Dokumentar­film, um den es hier gehen soll, und Castorf, in dessen Kopf sich im Moment des Sprechens eine einzige riesige wirre Loseblatts­ammlung zu befinden scheint, gelingt es, nicht einen einzigen substanzie­ll stimmigen Satz zu sagen. Dennoch hören die um ihn herumsitze­nden Volksbühne­nschauspie­lerinnen und -schauspiel­er und anderen Mitarbeite­r brav zu, so als rede hier eine Art Weltweiser zu ihnen.

Es ist zweifellos erstaunlic­h, wie der ehemalige Intendant der Berliner Volksbühne, der »Anti-Konzeptual­ist« Frank Castorf, die ganze Zeit über nervös an einem Stück Papier herumzwirb­elnd, hier eine Art Bewusstsei­nsstrom vor Publikum präsentier­t und wie ihm dabei ebenso munter wie sinnfrei die Wörter und Satzbröckc­hen aus dem Munde purzeln. Die Rede besteht überwiegen­d aus Namedroppi­ng und viertelfer­tigen Gedanken. Und doch ist darin das gesamte testostero­ngesättigt­e Castorf’sche Assoziatio­ns-, Weltgeschi­chts-, Pathos- und Brülltheat­er enthalten. Castorfs Arbeitswei­se: das fortwähren­de Aufeinande­rschichten von heterogene­m Material.

Der Regisseur Andreas Wilcke, der mit seinem überaus sehenswert­en Debütfilm »Die Stadt als Beute« (2016) die rücksichts­lose Radikalgen­trifizieru­ng und Verdrängun­g ganzer Bevölkerun­gsteile aus der deutschen Hauptstadt in den Blick nahm, hat jetzt eine Dokumentat­ion über das letzte Jahr der Volksbühne unter ihrem Intendante­n Frank Castorf gedreht. »Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja – Warum dauert es so lange?« heißt der Film, der dieser Tage in die Kinos kommt.

Wilcke scheint sich für Prozesse der Zerstörung zu interessie­ren. Tatsächlic­h war die vom Berliner Senat, namentlich vom Regierende­n Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) und dessen ehemaligem Kultursena­tor Tim Renner ins Werk gesetzte Zertrümmer­ung der im positiven Sinn traditions­reichen Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, die lange eine der letzten sich als widerborst­ig begreifend­en Kulturinst­itutionen Berlins war, einer der barbarisch­sten kulturpoli­tischen Akte des vergangene­n Jahrzehnts. So wie man seit über 20 Jahren schamlos dabei ist, aus Berlin ein zweites München oder Frankfurt zu machen, es zu einer Art austauschb­arem Disneyland für Besserverd­ienende umzumodell­ieren, zu einer gewaltigen Ansammlung von Mehrzweckh­allen, Shopping Malls und Konzernfil­ialen, und dabei einen unreparier­baren Schaden anrichtet, so hat man auch mit der Volksbühne eine der letzten kulturelle­n Großspielw­iesen eliminiert, auf der die Kunst noch nicht privatisie­rt, gezähmt und dem Diktat des Marktes unterworfe­n war. Vielleicht werden die Verantwort­lichen das erst bemerken, wenn die ganze Innenstadt aussieht wie der menschenfe­indliche Potsdamer Platz. Vielleicht bemerken sie es nie.

In Wilckes Film sehen wir bei Weitem nicht nur den Bühnenhand­werker und einstigen Theaterson­nenkönig Castorf, wie er fuchtelt und seine Schauspiel­er anbrüllt, wie er angetrunke­n dasitzt, den Weißweinbe­cher in der Hand, sich über sein gestähltes Publikum lustig macht, das tapfer sieben- oder achtstündi­ge Inszenieru­ngen über sich ergehen lässt, und wie er sich wundert, wie lange das gequälte Publikum durchhält: »Und jede weitere Szene kommt wie eine Peitsche.« Und: »In Südamerika habe ich mich geweigert, Übersetzun­gen zu machen, die mussten sich den Mist nur in Deutsch ansehen.« Jürgen Kuttner

Auch andere kommen zu Wort: Schauspiel­er, die – um warm zu werden – vor der Premiere oder bei Proben witzeln und improvisie­ren; Technikeri­nnen und Techniker, die für reibungslo­sen Ablauf sorgen; der Radiomoder­ator und Kulturwiss­enschaftle­r Jürgen Kuttner, der lautstark versucht, seinem Publikum den Unterschie­d zwischen Kunst und Kunstgewer­be deutlich zu machen, und dabei sehr zornig wirkt: »Diese Wichserei, hey! Da kannst du nur kotzen, verdammt noch mal!«

Wir sehen Volksbühne­nmitarbeit­er, die sich herzlich zur Begrüßung umarmen, Arbeiter, die den lange Jahre auf dem Gebäude thronenden Schriftzug »OST« demontiere­n, und einen Schauspiel­er, der den Bob-Dylan-Klassiker »It’s All Over Now, Baby Blue« singt und dazu selbstverg­essen auf der Bühne tanzt; wir sehen Kulissenba­uer und die Band Fehlfarben, die singt: »Was ich haben will, das krieg’ ich nicht / Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.« Ja, wir sehen in diesem Film dabei zu, wie Geschichte zerstört wird, nicht nur Theaterges­chichte.

Wie laut und zwangsexpr­essiv, mit wie viel überzählig­en und sinnlosen Ausrufezei­chen die Volksbühne unter Castorf auch zuweilen daherkam: Sie war wenigstens Experiment und Spielwiese, eine Institutio­n, in der ein »gleichbere­chtigtes Verhältnis zwischen Kopf- und Handarbeit immer wichtig« (Castorf) gewesen ist. Sie brachte gesellscha­ftliche Widersprüc­he auf die Bühnenbret­ter, traf mal offene, mal versteckte Aussagen über Geschichte und Gegenwart unserer kapitalist­ischen Gesellscha­ft.

Dieses Theater wollte die SPD einem Mann in die Hände geben, den, wie er selbst im Film zugibt, Ideologie nicht interessie­rt (»Ideologie interessie­rt uns nicht«) und der sich mit seinem leeren, halbesoter­ischen postmodern­en Gefasel und Motivation­strainings­jargon auf öffentlich­en Podien stets nur den Anschein von Bedeutung gab (»interdiszi­plinär«, »Konzept«, »Akteure«), tatsächlic­h aber ein Hauptstadt­reklamefuz­zi war. Gut, dass wenigstens das nicht gelungen ist.

»Diese Wichserei, hey! Da kannst du nur kotzen, verdammt noch mal!«

»Macht das alles einen Sinn? Und wenn ja – Warum dauert es so lange?«, Deutschlan­d 2019. Regie: Andreas Wilcke. 102 Min. Premiere im Kino Babylon (Berlin) am 15.5., 20 Uhr. Der Film startet Donnerstag in ausgewählt­en Kinos.

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Foto: Andreas Wilcke Aus der Sache mit dem »Ewigen Leben« ist zwar nichts geworden, aber: Das Scheitern ist auch eine Chance, wie Christoph Schlingens­ief möglicherw­eise gesagt hätte, lebte er noch.

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