Konsensphilosoph
Jürgen Habermas hat die Kritische Theorie entkernend beerbt – zum 90. Geburtstag des Philosophen und politischen Intellektuellen.
Wie sich Jürgen Habermas als Gewissen der Nation erfand – und was dabei auf der Strecke blieb: zu seinem 90. Geburtstag.
Wenn sich Jürgen Habermas in den letzten Jahren nicht mit Religions- und Rechtsphilosophie beschäftigt, setzt er sich mit dem Verfall des Europa-Ideals auseinander. In journalistischen Arbeiten behandelt er Fragen des Staatsrechts, kritisiert elitäre Züge der EU, weist auf Legitimationsdefizite hin und fordert Reformen in Brüssel und Straßburg. Er verteidigt sozialdemokratische Positionen in der Ära ihres Ausverkaufs, er streitet für die Rückgewinnung staatlicher Handlungsspielräume gegen deregulierte Märkte. Ginge es nach ihm, führte eine »transnationale Volkssouveränität« zu einer »postnationalen Konstellation« Europas.
Politischer Stichwortgeber, Gewissen der deutschen Nation: Das ist die Rolle, in welcher der Philosoph, der am Dienstag 90 Jahre alt wird, spätestens seit dem »Historikerstreit« bekannt ist. Und die Bilanz seiner Wortergreifungen fällt so zwiespältig aus wie die der jüngeren Zeitgeschichte. 1986 griff Habermas die revisionistische Irrlehre des Geschichtsprofessors Ernst Nolte an, der – mit Schützenhilfe der FAZ – behauptet hatte, der nazistische Völkermord an Europas Juden sei lediglich als Reaktion auf den Sowjetkommunismus zu werten. Seine Intervention machte klar: Solche Relativierungen sind nicht nur unzulässig, sondern unerträglich, weil sie den deutschen Zivilisationsbruch, den Holocaust, kleinreden.
Historikerstreit und Kosovokrieg
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, schrieb Habermas, sei Voraussetzung für einen demokratischen »Verfassungspatriotismus«. Dieser Ausdruck stammt von Dolf Sternberger, der in den 1930er Jahren bei Theodor W. Adorno in Frankfurt studiert hatte. Habermas, so einst die FAZ mit spitzen Fingern, »popularisierte (…) den Begriff und setzte ihn gegen vermeintliche Versuche der Restauration eines ›normalen‹ deutschen Nationalbewusstseins als ›einzigen Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet‹ – durch die Bindung an ›universalistische Verfassungsprinzipien‹«. Wohin jener Patriotismus, »der uns dem Westen nicht entfremdet«, politisch führen kann, zeigte sich im Jahr 1999, als die NATO Belgrad bombardierte: Habermas befürwortete den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945. Bemäntelte hier der »Universalismus« geopolitische Partikularinteressen an der Zerschlagung Jugoslawiens?
Im gleichen Jahr trat Habermas eine Gentechnologie-Debatte los, nachdem Peter Sloterdijk für Mut zu »anthropotechnischer Menschenzucht« plädiert hatte. Sloterdijk, der Habermas in seiner Stichwortgeberrolle immer gern beerbt hätte, spottete über humanistische Skrupel gegenüber Keimbahntherapie und vorgeburtlicher Diagnostik. Mit vagen Anspielungen auf Friedrich Nietzsche deutete er an, dass nicht lebenswerte Ungeborene nötigenfalls aus dem Verkehr zu ziehen seien. Ganz zu Recht schlug Habermas hier Faschismusalarm. Und Sloterdijk fiel nichts Besseres ein, als die Kritische Theorie für »tot« zu erklären.
Doch mit Habermas und der Kritischen Theorie war es so eine Sache. Dem »Spiegel« erschien er 1971 als »Kronprinz der Kritischen Theorie, einer Gesellschaftslehre des nicht dogmatischen Marxismus«. Aber schon Mitte der 1960er Jahre, nachdem der »Kronprinz« in Frankfurt Max Horkheimers Nachfolger geworden war, hatte er Marx verabschiedet und sich Hegel zugewandt. Seine Theorie sollte kritisch sein, aber nicht mehr radikal und dialektisch.
Ihre Grundlage war ein Dualismus aus »Arbeit« (Beherrschung der äußeren und inneren Natur) und »Interaktion« (Verständigung und normative Bestimmung des Handelns). Dies wurde mit einer Unterscheidung verknüpft, die von Edmund Husserl stammt: Das »System« ist das tendenziell sinnentleerte Reich instrumenteller, fremdbestimmter Arbeit, die »Lebenswelt« hingegen das Reich der interaktiv ausgehandelten Selbstbestimmung.
Indem Habermas die lebensweltlichsprachliche Verständigung zu seinem großen Thema machte, knüpfte er an den herrschaftskritischen Impuls der Aufklärung an: In vernunftgeleiteter Kommunikation sollten sich Sinnressourcen rekonstruieren lassen, die eine Opposition gegen die »systemischen Imperative Macht und Geld« bestärken. Später wurde daraus eine kantianische Diskursethik. Habermas plädierte für intersubjektive Konsensbildung über moralische Normen und soziale Gerechtigkeit.
Eine Generation später hat Hauke Brunkhorst das Theoriedesign seines Frankfurter Lehrers folgendermaßen referiert: »Habermas hatte gesehen, dass man den Marxismus als Systemtheorie des Spätkapitalismus erneuern muss.« Bei dieser »Erneuerung« blieb vom Marxismus aber nicht viel übrig. Gegen Horkheimers Theorie der kapitalistischen Epoche sieht Habermas’ Kommunikationstheorie aus wie das Godesberger Programm der SPD im Vergleich zum Kommunistischen Manifest. Horkheimer beschrieb in den 1930er und 40er Jahren soziale Widersprüche, die nach revolutionärer Veränderung schreien, auch wenn die nicht eintritt. Habermas nährt den Optimismus, dass sich der Kapitalismus humanisieren und moralisieren lasse. Der Haken ist: Dessen Produktionsverhältnisse vertragen sich glänzend mit humanistischen und ethischen Werten. Ohne diesen ideologischen Überbau ließe sich formale Freiheit bei realer Unfreiheit nicht dauerhaft installieren. Die Ausbeutung lebendiger Arbeit wird durch allerlei Spielarten sozialer Interaktion vermittelt.
Oskar Negt, sein ehemaliger Assistent in Heidelberg, hatte sich seinerzeit wegen dieses Arbeits-Interaktions-Dualismus von Habermas distanziert. In einem Interview der »Zeitschrift für kritische Theorie« hat Negt seine Kritik zusammengefasst: »Den Arbeitsbegriff von Kommunikation und Interaktion zu entleeren bedeutet, ihn politisch aufzugeben.« Habermas’ Aufstieg zu politischen Intellektuellen der Bundesrepublik ging, wenn man Negt folgt, also damit einher, dass er seine sozialphilosophischen Kategorien entpolitisierte.
Wissenschaftspolitisch war Habermas ein geschickter Stratege. Er hatte seine Laufbahn als Schüler des Philosophen Erich Rothacker begonnen, eines überzeugten Nationalsozialisten, der bereits seit 1947 wieder in Bonn lehrte. Habermas promovierte 1954 bei Rothacker über Schelling und arbeitete danach als kulturkritischer Journalist, unter anderem für die FAZ. Doch wenig später orientierte er sich um – vom Ex-Nazi Rothacker zu den zurückgekehrten marxistischen Emigranten Horkheimer und Adorno in Frankfurt. Dort wurde er 1956 Assistent am Institut für Sozialforschung.
Weil es politische Differenzen mit Horkheimer gab, wurde nichts aus dem Plan, sich an der Frankfurter Universität zu habilitieren. Nachdem Habermas 1961 einen Ruf auf eine Philosophieprofessur in Heidelberg erhalten hatte, reichte er seine Schrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit« bei dem sozialistischen Politologen Wolfgang Abendroth in Marburg ein. Thema war, wie eine konstitutive Öffentlichkeit als kulturelles Kraftzentrum der bürgerlichen Gesellschaft entsteht und sich unter dem Druck des Marktes in eine konsumistische verwandelt.
1964 wurde Habermas dann mit Adornos Unterstützung in Frankfurt Horkheimers Nachfolger auf einer Professur für Philosophie und Soziologie. Die legte er 1971 nieder und beschäftigte sich am Max-PlanckForschungsinstitut in Starnberg mit den Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt.
1981 erschien die »Theorie des kommunikativen Handelns« – Habermas’ Hauptwerk, von dem man in Frankfurt munkelte, viele Seiten bestünden aus kaum veränderten Referaten seiner Mitarbeiter. Ein Versuch, als Honorarprofessor in München zu lehren, scheiterte. Habermas kehrte Starnberg den Rücken und ließ sich, mit Unterstützung des hessischen Kultusministeriums, 1983 erneut auf eine Professur in Frankfurt berufen.
Gegen Max Horkheimers Theorie der kapitalistischen Epoche sieht Habermas’ Kommunikationstheorie aus wie das Godesberger Programm der SPD im Vergleich zum Kommunistischen Manifest.
Die Erfindung seiner Tradition
Diesen Neuanfang flankierte er mit einer Legende: »Habermas, der sein Projekt einer Kommunikationstheorie ein Jahrzehnt lang von der Kritischen Theorie abgegrenzt hatte, begann jetzt mit seiner wirkungsvollen ›invention of tradition‹, in der er sich selbst als Vertreter einer ›zweiten Generation‹ der Frankfurter Schule darstellte und gern auch darstellen ließ«, schrieb Detlev Claussen in der »taz«: »Die Identität des Ortes Frankfurt erleichterte diese Mythenbildung.«
Habermas lancierte die Lesart, Horkheimer und Adorno hätten – im Geiste Nietzsches – das »Projekt der Moderne« untergraben und den Irrationalismus der französischen Postmoderne vorweggenommen. Die Vernunftkritik der »Dialektik der Aufklärung« ziehe sich selbst den Boden unter den Füßen weg – und erst seine eigene Kommunikationstheorie liefere normative Grundlagen für eine kritische Theorie der Gesellschaft. So falsch und unhaltbar das auch war: Es hat Generationen von Studierenden und Lehrenden beeinflusst.
Als Jürgen Habermas im Jahr 1994 in Frankfurt entpflichtet wurde, war er der weltweit bekannte streitbare Intellektuelle, als der er bis heute von seinen Anhängern verehrt und von seinen Gegnern respektiert wird. Mit Ehrgeiz, Machtbewusstsein und Kälte kann man es an deutschen Unis zu etwas bringen. Umso besser, wenn intellektuelle Brillanz und rasantes Rezeptions- und Produktionsvermögen hinzukommen – und man keine Skrupel hat, sich auf die Texte, die man liest, nicht immer wirklich einzulassen. Aber erst mit sicherem Gespür, was an der Zeit ist, und ohne Scheu vor Kontroversen kann man zum Stichwortgeber in den Debatten der Nation werden.
Dass die Kritische Theorie dabei auf der Strecke blieb, ist ein hoher Preis. Und dürfte sich als Manko erweisen, wenn es gilt, dem Übergang vom Marktradikalismus zum Autoritarismus etwas entgegenzusetzen, der in Europa gegenwärtig droht.