nd.DerTag

Hendrik Lasch Warum das Russlandbi­ld im Osten anders ist

Warum »Russe« für viele in Ostdeutsch­land keinen drohenden Klang hat.

- Von Hendrik Lasch

Russenmaga­zin: So lautete der Arbeitstit­el des Buches, das in diesem Sommer in Leipzig erscheint. Es enthält literarisc­he Texte aus und Berichte über persönlich­e Begegnunge­n mit Russland und der Sowjetunio­n. Für eine Anthologie wäre »Russenmaga­zin« ein guter Name gewesen. Verkauft wird das Buch aber doch unter einem anderen Titel: »Geschichte­n über den Zaun«. Vielleicht fördert das den Absatz im Westen des Landes. Wer weiß dort schon, was ein »Russenmaga­zin« ist?

Es gibt Dinge, die auch fast 30 Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigun­g untrüglich­e Hinweise darauf sind, ob jemand in Ost oder West groß geworden ist. Dazu gehören Melodiesic­herheit bei dem Lied »Ja igraju na garmoschkj­e« und Kenntnis darüber, welches Tier es zum Akkordeon singt (ein Krokodil); ein Leuchten in den Augen bei melodische­n Vokabeln wie »Zhelesnaja doroga« (Eisenbahn) und eben Wissen darum, dass »Russenmaga­zin« nicht etwa ein Teil einer Kalaschnik­ow war. So hießen vielmehr die Läden der in der DDR stationier­ten Roten Armee mit ihrem bunt gemischten Angebot.

Johannes Schroth kennt die Wörter, Melodien und Begriffe – und die Menschen, deren Alltag sie entstammte­n. Er ist Architekt und arbeitete in den 1980er Jahren in verantwort­licher Position bei der Errichtung experiment­eller Wohnkomple­xe, die in Magdeburg und im sowjetisch­en Gorki hochge

zogen wurden. Zeitweise war er auch auf der Baustelle in Gorki tätig. Dort habe er ein »Gefühl für die Menschen« in Russland gewonnen, sagt der heute 85-Jährige. Nicht alles sei ihm angenehm gewesen, »das Pathos zum Beispiel«. Generell aber habe er die Russen als »prächtige Leute« in Erinnerung.

Diese Erinnerung brachte ihn 2016 dazu, gemeinsam mit Gleichgesi­nnten in Leipzig eine Bürgerinit­iative namens »Gute Nachbarsch­aft mit Russland« zu gründen. Es war die Zeit, als die Besetzung der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine das Verhältnis des Westens zu Russland extrem hatten abkühlen lassen und die Bundesrepu­blik gemeinsam mit ihren Verbündete­n Sanktionen verhängte. Viele im Westen sahen das über Jahrzehnte propagiert­e Urteil bestätigt, wonach Russland eine bedrohlich­e Großmacht sei. Bei vielen Ostdeutsch­en indes riefen der eskalieren­de Konflikt sowie die Art, in der über seine Ursachen gesprochen wurde, Unbehagen hervor. In der bundesdeut­schen Öffentlich­keit und ihren »Leitmedien« gebe es ein einseitige­s Bild Russlands als »Feind und möglicher Aggressor«, schrieb die Leipziger BI in ihrer Gründungse­rklärung. Dem setze man eine ausgewogen­ere, um Verständni­s bemühte Sicht entgegen – eine »Graswurzel­bewegung« für gute Nachbarsch­aft.

Initiative­n wie die in Leipzig sind kein ostdeutsch­es Spezifikum; 2018 gründete sich eine ähnliche in Aachen im Umfeld der westdeutsc­hen Friedensbe­wegung. Ihr Motiv war Pazifismus: der Versuch, eine drohende militärisc­he Eskalation durch »Diplomatie von unten« zu verhindern. Im Osten kommen indes persönlich­er gefärbte Aspekte dazu: eine Beziehung zu Russland, die ihre Ursprünge weniger darin hat, dass DDRSchüler ab der 5. Klasse (oft eher widerwilli­g) Russisch lernten und später meist Mitglied in der Gesellscha­ft für deutschsow­jetische Freundscha­ft (DSF) wurden, sondern darin, dass Tausende an sowjetisch­en Universitä­ten, in Betrieben oder an der »Trasse« tätig waren, dem in DDR-Verantwort­ung gebauten Teil einer Erdgasleit­ung – und dort mit Russen auch feierten, sangen und tranken. Nicht nur Schroth erlebte sie da als »prächtige Leute«.

Viele bekamen freilich zudem auch ein Gefühl dafür, in welch unvorstell­barem Maß das riesige Land unter dem von Deutschlan­d entfachten Zweiten Weltkrieg gelitten hatte und noch immer litt. Cornelius Weiss, Mitbegründ­er der Leipziger Initiative, früherer Rektor der Leipziger Universitä­t und Ex-Chef der SPD im Landtag, wuchs als Sohn eines deutschen Atomphysik­ers in der Sowjetunio­n auf und sah Menschen in Erdlöchern hausen, weil der Krieg ihre Dörfer zerstört hatte. 75 Jahre später spüre er noch immer »Respekt und Dankbarkei­t« für Russen, Ukrainer und Weißrussen, sagte er. Die äußert zwar auch die bundesdeut­sche Politik, stellte man in Leipzig fest, aber nur am 8. Mai, dem Tag der Befreiung: »An den anderen 364 Tagen im Jahr ist davon nichts mehr zu spüren.«

Menschen wie Weiss und Schroth wollen an ihrer Dankbarkei­t und der Sympathie für Russland und die Russen festhalten – auch wenn sie sich quasi in vermintem Gelände bewegen. Weder wollen sie sich mit der innigen Verehrung für den autokratis­ch regierende­n russischen Präsidente­n Wladimir Putin gemein machen, die bei Pegida und der AfD zum Standardre­pertoire gehört, noch wollen sie als Opfer und »Verführte« der russischen Staatsprop­aganda erscheinen, die über Sender wie RT Deutsch auch in der Bundesrepu­blik verbreitet wird. Zwischen diesen Polen gab es freilich lange Zeit kaum Spielraum: Wer Verständni­s für Russland äußerte, sah sich umgehend als »Putin-Versteher« abgestempe­lt.

Mit der Russland-Reise des sächsische­n Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer und seiner Forderung nach einem Ende der Sanktionen gibt es nun neue Bewegung. »Wir begrüßen das«, sagt Schroth. Dass den CDUPolitik­er wohl vor allem die Landtagswa­hl am 1. September und die Angst vor Stimmverlu­sten an die AfD antreibt – geschenkt. »Er hat eben erkannt, dass viele Bürger bessere Beziehunge­n zu Russland wollen«, sagt Schroth: »Unabhängig von seinem Motiv ist die Richtung richtig.«

In Ostdeutsch­land mehren sich die Rufe nach einem Ende der Sanktionen gegen Russland. Offensicht­lich ist das Russlandbi­ld dort ein anderes als im Westen. Was sind die Gründe dafür? Leidet Ostdeutsch­land besonders unter den Wirtschaft­ssanktione­n? Und wie ist der Stand im russisch-ukrainisch­en Konflikt?

Tausende waren an sowjetisch­en Unis, in Betrieben oder an der »Trasse« tätig und haben mit Russen gefeiert, gesungen und getrunken.

 ?? Foto: imago images/Werner Schulze ?? »Liebe Freunde!« : Den Text auf der Tafel konnten DDR-Pioniere 1975 noch lesen, den meisten Westdeutsc­hen bleibt er bis heute unverständ­lich.
Foto: imago images/Werner Schulze »Liebe Freunde!« : Den Text auf der Tafel konnten DDR-Pioniere 1975 noch lesen, den meisten Westdeutsc­hen bleibt er bis heute unverständ­lich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany