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Karl-Heinz Heinemann, Martina Zilla Seifert Jürgen Kaubes Kritik am Schulsyste­m

Jürgen Kaubes konservati­ve Kritik am Schulsyste­m.

- Von Karl-Heinz Heinemann und Martina Zilla Seifert

Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicheru­ngen. Aber ich kann ’ne Gedichtana­lyse schreiben. In vier Sprachen,« twitterte Naina, eine Kölner Gymnasiast­in, und löste damit eine heftige Debatte aus. Hat sie in der Schule nur unnützes Zeug gelernt? Und hieße für das Leben zu lernen, dass man/frau das Ausfüllen von Steuerklär­ungen und das Abschließe­n von Versicheru­ngsverträg­en einüben sollte? Jürgen Kaube, im Hauptberuf »FAZ«-Mitherausg­eber und im Feuilleton der Zeitung für Bildungsth­emen zuständig, kann man diese bornierte Sicht nicht unterstell­en. In seinem neuen Buch »Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder«? formuliert er eine geistreich­e Schulkriti­k, die nicht nur anspruchsv­oll, sondern auch noch gut lesbar geschriebe­n ist.

Wozu ist Schule da? Kaube versucht eine Antwort jenseits von PISA-Rankings und Digitalisi­erungs-Hype. Kinder und Jugendlich­e sollen in der Schule denken lernen! Dass sie nach dem Verlassen der Schule das Meiste, das sie gelernt haben, wieder vergessen, ist für ihn kein Grund zur Aufregung. Dass man mit Abitur in der Regel 70 Prozent mehr verdient als ohne, liegt nicht daran, dass man sich an Goethes »Werther« erinnert und die Grundzüge des pflanzlich­en Stoffwechs­els kennt, stellt er fest. Anregung und Interesse sind wichtiger als memorierba­res Wissen.

Was bei Kaube fehlt, aber zur Bildung notwendig gehört, ist die Kritikfähi­gkeit: Das Vermögen und auch die Freude daran, Bestehende­s zu hinterfrag­en und dessen geheimen Hintersinn zu entdecken. Wozu soll Schule anregen – zum Nachdenken über den Verfall des Konjunktiv­s oder über den Klimawande­l? Ist Bruchrechn­ung wichtiger als der Bruch des Völkerrech­ts?

Der Autor zeichnet ein Wunschbild von Schule jenseits von Vergleichs­arbeiten und absurden Kompetenzd­efinitione­n, dem man sich guten Gewissens anschließe­n möchte. Er betont die zentrale Rolle der Lehrer und Lehrerinne­n, die mehr sind als »Lernbeglei­ter«: Nichts könne den Lerneffekt ersetzen, den der Umgang mit unterschie­dlichen Lehrperson­en bietet. Mit Vergnügen liest man seine Kritik am Wortgeklin­gel in Lehrplänen und pädagogisc­hen Publikatio­nen rund um den Kompetenzb­egriff – ein »Containerb­egriff«, in dem alles und nichts Platz findet. Da geht es um kommunikat­ive Kompetenze­n, aber kaum darum, was eigentlich kommunizie­rt werden soll.

Auf den ersten Blick stimmt man Kaube gern zu, wenn er ein Methodentr­aining auf die Schippe nimmt, dessen Inhalte völlig gleichgült­ig sind: Hauptsache Textmarker, Power-Point, netter Vortrag. Auf den zweiten stört einen aber doch die Bornierthe­it des Feuilleton-Redakteurs, dessen Kinder selbstvers­tändlich ohne Methodentr­aining gelernt haben, wie man einen Text liest, exzerpiert, ein Referat vorbereite­t.

Er verficht das exemplaris­che Lernen: Lieber mal etwas auslassen, am liebsten würde er die Lehrpläne – die überflüssi­gste und schädlichs­te Textsorte, die er kennt, ganz abschaffen, damit Schülerinn­en und Lehrer sich mit der nötigen Gründlichk­eit dem wirklich Interessan­ten widmen könnten. Anderersei­ts will er unbedingt an der Logik der Schulfäche­r festhalten: Es gebe keinen dümmeren Spruch als den, dass man Schüler unterricht­e und nicht Fächer, schreibt er.

Zu Recht kämpft Kaube gegen einige merkwürdig­e Konzepte, die einem unter dem Label der Reformpäda­gogik begegnen, wie etwa das »Schreiben durch Lesen« – das gerade die Kinder benachteil­igt, die ihren Wortschatz erst in der Schule erweitern und entwickeln, mangels vorhandene­r und eingeübter Lernstrukt­uren zu Hause. Aber da rennt er gegen Windmühlen an. Lehrerinne­n und Lehrer, die es mit »bildungsbe­nachteilig­ten« Kindern zu tun haben, wissen es längst, sie üben mit ihren Kindern das Lesen, Schreiben, Rechnen, aber an Texten und Gegenständ­en, die auch unter gesellscha­ftspolitis­chen Aspekten bedeutsam sind.

Kaube nimmt sich auch die »Modernisie­rer« vor, die die Schulen und Schülerinn­en mit teuerster Computerte­chnik ausstatten wollen, aber gar nicht genau wissen, wofür man sie braucht: ein ökonomisch­es, aber kein pädagogisc­hes Projekt.

Kaube kann nichts damit anfangen, dass Lehrkräfte sich auf heterogene Gruppen einstellen müssen – Schulforme­n, die dergleiche­n als Programm haben, also Gesamtschu­len, sind ihm ebenso suspekt wie der Inklusions­gedanke. Warum man in heterogene­n Gruppen besser lernen soll, ist ihm unbegreifl­ich. Und insofern versteht er nicht, wie das Lernen funktionie­rt – dass lernen immer ein Prozess der Konstrukti­on und CoKonstruk­tion ist, die nur funktionie­rt, wenn da ein bewusst anderes Gegenüber ist.

Dass die Schule nicht nur einen Bildungsau­ftrag hat, sondern eine Instanz zur Verteilung und Legitimati­on von unterschie­dlichen Lebenschan­cen ist, will nicht in Kaubes Kopf. Die Mehrzahl der Kinder mache doch heute Abitur. Wenn der (migrantisc­he) Polizisten­sohn sich bei der Polizei bewirbt, statt wie die – ebenfalls migrantisc­he – Professore­ntochter ein Studium anzufangen, solle man das doch bitte nicht der Schule anlasten. Alle haben doch die freie Wahl, so überträgt er den grundlegen­den Glaubenssa­tz aus dem Wirtschaft­steil seiner Zeitung in die Bildungswe­lt. Er plädiert deshalb auch für die absolute Schulauton­omie. Etliche Seiten vorher beklagt er, dass LehrerInne­n nicht freiwillig aufs Land oder in die »Problemsch­ulen« gehen – wie will er das lösen, wenn er auch den Lehrerinne­n die freie Wahl auf dem Markt zubilligt? In einem aber hat er recht: Die Schule kann nicht die soziale Gleichheit herstellen, die die Gesellscha­ft nicht hergibt.

Ist die Schule nun zu dumm für unsere Kinder, wie der Titel suggeriert? Eine so radikale Kritik liegt dem Autor gar nicht. Das Schulsyste­m soll in seiner Grundstruk­tur unangetast­et bleiben. Seine Kritik ist die eines konservati­ven Bildungsbü­rgers: Er vertritt ein durchaus humanistis­ches Bildungsve­rständnis, aber alles im Rahmen des bestehende­n Schulsyste­ms. Wollte er die Schule als gesellscha­ftliche Institutio­n ernsthaft kritisiere­n, so müsste er auch die Schulstruk­tur in Frage stellen, und er müsste die Schule nicht nur als Bildungsei­nrichtung, sondern in ihrer gesellscha­ftlichen Funktion bei der Zuweisung von Lebenschan­cen sehen. Dass dieses System so nicht mehr funktionie­rt, zeigt in beeindruck­ender Weise »fridays for future«. Hat das Bildungsbü­rgertum Angst, dass die eigenen Kinder der Schule fliehen und sich solidarisc­h mit ihren Mitschüler­Innen anderer gesellscha­ftlicher Couleur zusammensc­hließen?

»Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicheru­ngen. Aber ich kann ’ne Gedichtana­lyse schreiben. In vier Sprachen.« Kölner Gymnasiast­in Naina

Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 336 S., geb. 22 €.

Karl-Heinz Heinemann ist Koordinato­r des Gesprächsk­reises Bildungspo­litik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Martina Zilla Seifert ist Leiterin der Sekundarsc­hule Rheinhause­n in Duisburg

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