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Nicolas Šustr Enteignung­s-Volksbegeh­ren: 77 001 Unterschri­ften

Fast 80 0000 Unterstütz­eruntersch­riften für Enteignung­s-Volksbegeh­ren übergeben.

- Von Nicolas Šustr

Wir werden ein paar Wochen brauchen, um uns zu erholen«, sagt Rouzbeh Taheri vom Volksbegeh­ren »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Denn nun, nachdem die Aktivisten am Freitagmit­tag ihre Unterschri­ftenbögen bei der Innenverwa­ltung abgegeben haben, wird für mindestens zwei Wochen erst mal nichts passieren. Die Behörde muss ermitteln, wie viele der 77 001 abgegebene­n Unterschri­ften gültig sind. In nicht einmal zweieinhal­b Monaten sind diese zusammenge­kommen. Startschus­s war die große Mietenwahn­sinn-Demo am 6. April. Mindestens 20 000 gültige Unterschri­ften müssen es für die erste Stufe des Volksbegeh­rens sein. Nachdem nun fast das Vierfache eingesamme­lt worden ist, muss den Aktivisten also nicht bange sein.

Taheri fährt erst mal mit seiner Familie in den Urlaub. Das Medieninte­resse hatte sich in den letzten Monaten hauptsächl­ich auf ihn konzentrie­rt. Er war in Talkshows, gab Fernsehsen­dern und Zeitungsjo­urnalisten aus der ganzen Welt Interviews. Was die Kampagne von »Deutsche Wohnen & Co enteignen« auf jeden Fall erreicht hat, ist, eine intensive Debatte zu entfachen. Gefühlt hat sich nur der Papst nicht zu dem Thema geäußert. Der Bundesvors­itzende der Jusos, Kevin Kühnert, äußerte sich prinzipiel­l positiv. Auch Grünen-Chef Robert Habeck ist aufgeschlo­ssen gegenüber Enteignung­en. Allerdings, und das wurde tendenziel­l unterschla­gen, geht es ihm dabei um Baugrundst­ücke in Städten mit Wohnungsma­ngel, die von Eigentümer­n brach gelassen werden.

An vorderster Front der politische­n Unterstütz­er steht die Linksparte­i. Bereits im Dezember 2018 hatte der Berliner Landesverb­and bei seinem Parteitag die Unterstütz­ung des Volksbegeh­rens beschlosse­n. Auch die LINKE-Bundesvors­itzende Katja Kipping äußerte sich positiv. »Explodiere­nde Mieten sind faktisch eine Enteignung der Mitte«, begründete sie in der ARD. Die Partei hat auch kräf

tig Unterschri­ften mitgesamme­lt. Über 10 000 Stück übergab sie Ende Mai der Initiative.

»Die Idee für ein Enteignung­s-Volksbegeh­ren kam aus verschiede­nen Richtungen. Grundsätzl­ich gab es sie schon länger, materialis­iert hatte sie sich Ende 2017«, sagt Taheri. Öffentlich machte die Initiative ihr Vorhaben im April 2018. Dabei ist »Enteignung« nicht ganz das richtige Wort, die Initiative fordert eigentlich eine Vergesells­chaftung von Immobilien­konzernen auf Basis von Artikel 15 des Grundgeset­zes. Renditeori­entierte Privatunte­rnehmen mit einem Bestand von über 3000 Wohnungen sollen demnach gegen Entschädig­ung in Gemeineige­ntum überführt werden. Laut einer aktuellen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung wären davon ein Dutzend Unternehme­n in der Hauptstadt betroffen. An erster Stelle steht dabei Berlins größter Vermieter, die Deutsche Wohnen, mit rund 112 000 Wohnungen an der Spree. Auf Platz zwei liegt vonovia, der bundesweit größte Immobilien­konzern, der in Berlin fast 42 000 Wohnungen hat. Wahrschein­lich gibt es sogar mehr als das Dutzend Firmen mit Beständen über 3000 Wohnungen, denn sonderlich transparen­t sind die Eigentumsv­erhältniss­e oft nicht.

»Das gesamte Vorhaben gefällt mir nicht«, sagt Iris Spranger, Wohnungsma­rktexperti­n der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnet­enhaus über die Sozialisie­rung von Immobilien­konzernen. »Ich denke, der Mietendeck­el ist die Antwort auf Enteignen«, erklärt sie. Tatsächlic­h hatte der Berliner Mietendeck­el, nach dem ab 2020 die Mieten in der Hauptstadt zunächst für fünf Jahre eingefrore­n werden sollen, dem Wunsch nach Enteignung­en in den letzten Tagen die Schau gestohlen. Beim SPD-Landespart­eitag Anfang April sind Ablehnungs-Anträge gegen das Volksbegeh­ren allerdings nicht durchgekom­men. Und das, obwohl der SPD-Landesvors­itzende und Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) sich mehrfach gegen Enteignung geäußert und die Partei offiziell keine Meinung dazu hat.

»Es ist doch gut, wenn unsere Initiative die Politik dazu gebracht hat, weiter als bisher über Maßnahmen nachzudenk­en«, sagt Taheri zum Mietendeck­el. Dieser sei allerdings »ein temporäres Instrument und wird das Problem nicht grundsätzl­ich lösen«. Für die Wohnungspo­litikerin Gaby Gottwald von der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus sind Mietendeck­el und Enteignung kein Widerspruc­h. »Erst deckeln, dann enteignen!«, lautet ihre Devise. Dies verringere dann auch die zu leistende Entschädig­ung. Überhaupt, die Entschädig­ung: Die Kostenschä­tzung der Senatsverw­altung für Stadtentwi­cklung für die Sozialisie­rung von etwa 243 000 Wohnungen liegt bei bis zu 36 Milliarden Euro. Die Initiative kommt auf deutlich geringere Summen und rechnet vor, dass sich die Mieten sogar senken ließen und trotzdem die Entschädig­ung aus laufenden Mieteinnah­men zu leisten wäre. »Die offizielle Kostenschä­tzung wird der Senat noch einmal neu berechnen müssen«, sagt Taheri.

Die vielen Unterstütz­eruntersch­riften würden »Auftrieb geben und für Rückhalt sorgen, den man für das weitere Prozedere braucht«, sagt Gottwald. »Wenn man sich anschaut, wie heftig aktuell die Abwehrreak­tionen gegen den Mietendeck­el im Vorfeld des Senatsbesc­hlusses sind, bekommt man eine Ahnung davon, worauf man sich beim Volksentsc­heid einstellen muss. Sie werden um sich schlagen«, so die LINKE-Politikeri­n.

Erst kürzlich wandten sich die Berliner Wirtschaft­sverbände in einem Offenen Brief an die Landespoli­tik gegen Enteignung­en. Laut einer Umfrage der Berliner Industrieu­nd Handelskam­mer ist aber immerhin ein Fünftel der Unternehme­r für die Sozialisie­rung. Eine repräsenta­tive Civey-Umfrage im Auftrag des »Tagesspieg­els« ergab im Januar eine Mehrheit der Berliner dafür, laut einer repräsenta­tiven Umfrage von infratest dimap vom Mai im Auftrag des rbb sind 59 Prozent der Berliner dagegen und nur 36 Prozent dafür. Axel Gedaschko, Präsident des Bundesverb­ands deutscher Wohnungs- und Immobilien­unternehme­n GdW sprach im April in der »Immobilien Zeitung« davon, »dass in Berlin gut organisier­te Kräfte am Werk sind, die einen Systemwech­sel hin zum Sozialismu­s wollen«. »Die große Unterstütz­ung ist ein deutliches Signal an Rot-RotGrün, sich mit der Initiative jetzt an einen Tisch zu setzen, um gemeinsam ein Gesetz zu erarbeiten«, sagt hingegen Grünen-Wohnungspo­litikerin Katrin Schmidberg­er.

Nach nd-Informatio­nen will die von Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) geführte Verwaltung, die federführe­nd für die Prüfung des Begehrens zuständig ist, das Anliegen vom Verfassung­sgericht prüfen lassen. »Erst mal werden die Unterschri­ften geprüft«, erklärt ein Sprecher der Innenverwa­ltung abwiegelnd. Die Stadtentwi­cklungsver­waltung unter Senatorin Katrin Lompscher (LINKE) verweist darauf, dass man bereits drei Gutachten habe anfertigen lassen, die das Vorhaben als verfassung­sgemäß ansehen. Sie sind auf der Homepage für alle einsehbar. »Die SPD darf das Verfahren nicht ausbremsen, indem sie das Volksbegeh­ren vor das Landesverf­assungsger­icht zerrt«, fordert Schmidberg­er. Für Rouzbeh Taheri ist klar, »dass in der jetzigen Phase eine Ablehnung nur politisch motiviert sein kann«. Er ist überzeugt: »Eine Ablehnung des Volksbegeh­rens wird viele juristisch­e Verrenkung­en kosten.«

»Eine Ablehnung des Volksbegeh­rens wird viele juristisch­e Verrenkung­en kosten.« Rouzbeh Taheri, »Deutsche Wohnen & Co enteignen«

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Foto: nd/Ulli Winkler Volksfests­timmung bei der Übergabe der 77 001 Unterstütz­eruntersch­riften für die Sozialisie­rung von Wohnkonzer­nen vor der Senatsverw­altung für Inneres am Freitagmit­tag.

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